Sarah Maclean
ge-
sehnt haben."
Callie konnte das Lächeln nicht unterdrücken.
„Sie haben die letzte Nacht tatsächlich bei Ralston ver-
bracht!"
Callies tief rote Wangen sprachen Bände.
„Ich sag Ihnen eines", begann Anne, und in ihrer Stimme
schwang eine Spur Stolz mit, „Sie sind das einzige Mädchen,
das mir je untergekommen ist, das eine derartige Liste anlegen
und dann auch noch in die Tat umsetzen würde." Ihr Ton änder-
te sich. „Allerdings würde es mich sehr verwundern, wenn Sie
nicht binnen einer Woche ruiniert wären."
„Ich werde ganz vorsichtig sein!", protestierte Callie.
Anne schüttelte den Kopf. „Wenn Sie nicht gerade für das
Kriegsministerium arbeiten, Lady Calpurnia, können Sie diese
Liste nicht mal halb abarbeiten, ohne dass Ihr Ruf in tausend
Stücke zerschellt." Sie hielt inne. „Das wissen Sie doch, oder?"
Callie nickte. „Ist es falsch, wenn ich mir heute Morgen nicht
allzu viel daraus mache?"
„Ja. Sie können das nicht tun, Lady Calpurnia. Spielen? In
einem Herrenclub? Sind Sie verrückt geworden?"
Callie wurde ernst. „Nein." Die beiden schwiegen einen lan-
gen Moment. Schließlich fand Callie die Worte, nach denen sie
gesucht hatte. „Aber, Anne, es war so wunderbar. Ein ganz un-
glaubliches, befreiendes Abenteuer. Können Sie nicht verste-
hen, dass ich mehr will?"
„Mir scheint, Sie bekommen schon mehr, als Sie erwartet
haben. Geben Sie her." Anne nahm Callie das pfirsichfarbene
Musselinkleid aus der Hand und gab ihr stattdessen ein Tages-
kleid aus grasgrünem Kattun.
„Was war denn verkehrt an dem Kleid, das ich ausgesucht
habe?"
„Ach, hören Sie auf zu schmollen. Wenn Sie ins Ralston House
gehen, sollten Sie dieses Kleid tragen. Grün steht Ihnen ganz
ausgezeichnet."
Callie akzeptierte das Kleid und beobachtete, wie Anne nach
Unterwäsche suchte. „Wir gehen nicht ins Ralston House."
Anne antwortete nicht, war vollauf in Anspruch genommen
vom Inhalt des Schrankes. Doch sie gab Callie das Schreiben.
Ohne auf das Zittern ihrer Hände zu achten, erbrach Callie das
Siegel, hin und her gerissen zwischen brennender Neugier und
panischer Angst.
Lady Calpurnia,
meine Schwester erwartet Sie um halb zwölf.
R.
Jetzt gab es kein Zurück mehr.
„Anne", sagte Callie, nicht in der Lage, den Blick von der
kurzen Nachricht zu wenden, „wir gehen ins Ralston House."
Einen Tag nach ihrem ersten Besuch fand Callie sich erneut auf
den Stufen vor Ralston House wieder - diesmal ganz ehrbar
bei Tageslicht und in Begleitung ihrer Zofe -, um Miss Juliana
Fiori kennenzulernen, die geheimnisvolle kleine Schwester des
Marquess.
Callie atmete tief durch und sandte ein stummes Stoßgebet
zum Himmel, dass Ralston nicht zu Hause war, damit ihr die
unvermeidliche Demütigung noch ein Weilchen erspart blieb.
Natürlich wusste sie, dass sie dem Zusammentreffen nicht für
alle Zeit aus dem Weg gehen konnte ... schließlich hatte sie
zugestimmt, seine Schwester in die Gesellschaft einzuführen.
Doch sie konnte hoffen, dass er ihr wenigstens heute noch nicht
begegnete.
Ein Lakai öffnete ihr die Tür, dahinter stand Jenkins mit un-
bewegter Miene. Bitte erkenn mich nicht, flehte sie im Stillen,
als sie in das faltige Gesicht des Butlers sah, während sie sich
bemühte, nach außen hin kühl und beherrscht zu wirken.
„Lady Calpurnia Hartwell, für Miss Juliana", sagte sie be-
tont ruhig und richtete sich zu voller Größe auf. Sie reichte dem
Butler eine Visitenkarte, die dieser mit tiefer Verneigung entge-
gennahm.
„Gewiss, Mylady. Miss Juliana erwartet Sie. Bitte folgen Sie
mir."
Sobald Jenkins sich von ihr abgewandt hatte, stieß Callie ei-
nen lautlosen Seufzer der Erleichterung aus. Sie folgte ihm zu
einer offenen Tür, die vom marmorgefliesten Korridor abging,
und nickte ihm hoheitsvoll zu, als er sie in einen bezaubernden
grünen Besuchersalon vorgehen ließ.
Callie musterte die grasgrüne Seide, mit der die Wände be-
spannt waren, die Chaiselongue und die Sessel, die alle kunst-
voll aus Mahagoni gearbeitet und mit herrlichen Stoffen bezo-
gen waren. Die Leichtigkeit des Raums wurde vervollkommnet
durch eine atemberaubende Marmorstatue auf der einen Sei-
te - eine große, geschmeidige Frauengestalt, die über dem Kopf
ein wogendes Stück Stoff hielt. Callie war überwältigt von der
Schönheit dieser Statue; sie musste einfach näher treten, wie
magisch angezogen von dem leisen, geheimnisvollen Lächeln,
welches
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