Sarah Maclean
Traum gewesen.
Aber dieses Glück war ihr nicht beschieden.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht, einfach mitten in der
Nacht zu Ralston zu gehen? Hatte sie sich dem Marquess of
Ralston ernsthaft in seinem Schlafzimmer genähert? Hatte sie
Londons berüchtigtstem Draufgänger tatsächlich Avancen ge-
macht? Sie hatte ihn doch ganz gewiss nicht gebeten, sie zu
küssen. Als sie an ihr Verhalten dachte, wurde Callie tiefrot, ihr
wurde ganz heiß, und dann schlug sie die Hände vors Gesicht
und stöhnte laut auf vor heißer Reue und Scham.
Sie würde nie wieder einen Tropfen Sherry anrühren. Nie
wieder.
In wilder Panik rasten ihre Gedanken dahin, bis sie den Kopf
hob und voll Entsetzen laut verkündete: „Ich habe ihn gebeten,
mich zu küssen." Mit einem Seufzen ließ Callie sich wieder aufs Bett sinken und bat das Universum, sie auf der Stelle tot um-fallen zu lassen oder ihr zumindest eine zehrende Krankheit zu
schicken. Sie konnte es einfach nicht riskieren, Gabriel St. John
je wieder unter die Augen zu treten. Nicht nach diesem Kuss.
Aber was für ein Kuss es gewesen war! Sie kniff die Augen
zusammen, als sie daran dachte, konnte jedoch die Flut der
Erinnerungen, die sich bei diesem Gedanken einstellte, nicht
zurückdrängen. Der Kuss hatte allen Erwartungen entspro-
chen, die sie je gehegt hatte. Nein, er hatte sie noch übertrof-
fen. Schier überlebensgroß hatte Ralston vor ihr aufgeragt, das
dunkle Haar zerzaust, die Augen glitzernd im weichen Kerzen-
schein, und dann hatte er sie geküsst, ganz warme Lippen, star-
ke Hände und wunderbarer Mann.
Wie von selbst strichen Callies Hände über ihren Oberkörper,
als sie an die weiche Berührung seiner Lippen dachte, die star-
ke Umarmimg. Wärme überflutete sie, als sie daran dachte, was
seine Lippen mit den ihren gemacht hatten, an den Schauer der
Erregung, den sie verspürt hatte, als sein Atem über ihren Hals
gefächelt war. Ralston war die Verkörperung all ihrer Träume.
Und danach hatte sie ganz weiche Knie gehabt. Er hatte ge-
sagt, dass ein Kuss einen immer voll Sehnsucht zurücklassen
sollte ... Doch sie war nicht auf die Leere gefasst gewesen, die
sich in ihr ausbreitete, als er sich aus der Umarmung gelöst und
dabei so ruhig und gefasst gewirkt hatte, als hätte er soeben
den sonntäglichen Gottesdienst besucht.
Sie war voll Sehnsucht. Immer noch.
Die ganze Erfahrung, so peinlich sie gewesen war, erschien
ihr gleichzeitig auch intensiv und befreiend; sie hatte so etwas
noch nie erlebt und sich immer danach gesehnt. Und es war
Ralston gewesen! Dieser Kuss hatte sie dafür entschädigt, dass
sie zehn Jahre lang am Rand des Ballsaals gestanden und ihn
mit einer Schönen nach der anderen am Arm beobachtet hat-
te, dass sie zehn Jahre lang die Ohren gespitzt hatte, wenn man
in den Salons auf ihn und seine neuesten Affären zu sprechen
kam, dass sie all die Zeit die lange Liste seiner Geliebten mit -
wie sie sich einredete - müßigem Interesse verfolgt hatte. In
Wirklichkeit war ihr Interesse natürlich niemals müßig gewe-
sen.
Callie schüttelte den Kopf. Männer wie Ralston waren jedoch
nicht für Frauen wie sie bestimmt. Wenn sie letzte Nacht et-
was gelernt hatte, dann das. Ralston war dunkel, aufregend, ein
Abenteuer ... und trotz allen Sherrys, den Callie am Abend da-
vor in sich hineingeschüttet hatte ...
... war sie, bei Tageslicht besehen, schlicht nichts dergleichen.
Aber an einem Abend war sie es gewesen, einen flüchtigen
Augenblick lang. Und was für ein wunderbarer Moment es
doch gewesen war. Sie war kühn und dreist gewesen und hat-
te ganz entschieden nicht bloß abgewartet - hatte nach etwas
gegriffen, was sie unter normalen Umständen niemals bekom-
men hätte. Und selbst wenn dieser Abend ihr gezeigt hatte, dass
Ralston für sie unerreichbar war, gab es keinerlei Grund, wa-
rum die übrigen Dinge auf ihrer Liste ebenso schwer umsetzbar
sein sollten.
Ich könnte die Punkte auf meiner Liste umsetzen.
Der Gedanke machte ihr Mut. Entschlossen drehte sie sich zu
ihrem Nachttischchen, auf dem sie das skandalöse Stück Papier
vor dem Schlafengehen abgelegt hatte. Sie griff danach, und
ein leises Lächeln spielte um ihren Mund, als sie noch einmal
las, was sie geschrieben hatte. Wenn ihr Erlebnis vom Vorabend
irgendwelche Rückschlüsse zuließ, würde sie bei der Verwirkli-
chung ihrer anderen Vorhaben jede Minute genießen. Die neun
Punkte waren alles, was zwischen
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