Sarah Maclean
Ausnahme bilden. Bei dem Gedan-
ken blitzte eine Erinnerung auf - wie Ralston an jenem ersten
Abend, an dem alles begonnen hatte, in seinem dunklen Schlaf-
zimmer all die Dinge aufgezählt hatte, die er seiner Geliebten
am Ende der Beziehung gegeben hatte. Der Gedanke ernüch-
terte sie. Natürlich sollte sie das nicht überraschen, aber ... die
Eifersucht, die sie bei der Vorstellung überkam, wie er für eine
andere Frau Kleider kaufte, tat weh.
Wie viele Geliebte er wohl schon gehabt hatte?
„Lady Calpurnia!"
Die Worte schreckten sie aus ihrem düsteren Tagtraum auf.
Sie drehte sich um und entdeckte Lord Oxford, der sich von
der anderen Straßenseite näherte. Seine eng anliegende hirsch-
lederne Kniehose und der dunkelblaue Frack, dazu die schar-
lachrote Weste, die farblich genau zum Knauf seines Spazier-
stocks und zu seinen Absätzen passte, bildeten ein prachtvolles
Ensemble, das nur noch von seinem blitzenden Lächeln über-
strahlt wurde. Oxford war wirklich eine Zierde der Gesell-
schaft.
Wenn man davon absieht, dass er gerade meinen Namen in
halb London herumposaunt.
„Lady Calpurnia!", wiederholte er, als er sie kurz vor dem
Eingang zu Madame Herberts Salon erreichte. „Was für ein
Riesenglück! Gerade habe ich mit dem Gedanken gespielt, Al-
lendale House einen Besuch abzustatten ... und schon stehen
Sie hier!"
„In der Tat", sagte Callie und widerstand dem Drang, ihn zu
fragen, wie er auf die Idee kam, Allendale House einen Besuch
abstatten zu wollen, „hier stehe ich." Als Oxford sie weiter an-
strahlte, ohne etwas zu sagen, fügte sie hinzu: „Heute ist ein
herrlicher Tag zum Einkaufen."
„Noch herrlicher aufgrund Ihrer Anwesenheit."
Callie runzelte die Stirn. „Ach. Na gut. Vielen Dank, Mylord."
„Vielleicht könnte ich Sie überreden, Ihre Einkäufe zu ver-
schieben und stattdessen mit mir ein Eis essen zu gehen?"
Stellte er ihr nach?
„Ach, das geht nicht ... Sehen Sie, meine Schwester ist da
drin." Sie deutete auf den Schneidersalon. „Sie wird schon auf
mich warten."
„Bestimmt hätte sie Verständnis." Er bot ihr den Arm und
blinzelte ihr grinsend zu.
Callie erstarrte. Er stellte ihr tatsächlich nach.
Warum?
„Callie!" Überrascht drehte Callie sich um und entdeckte
Mariana, die auf der Suche nach ihrer Schwester den Kopf aus
der Tür des Schneidersalons gesteckt hatte und nun verwirrt
die sich darbietende Szene betrachtete. „Oh, guten Tag, Lord
Oxford."
Oxford machte einen übertrieben tiefen Kratzfuß, wobei ei-
ner seiner Stiefel mit den roten Absätzen artig in Marianas
Richtung wies. „Lady Mariana, sehr erfreut."
Callie legte die Hand vor den Mund, um das Lächeln zu ver-
bergen, das sie sich angesichts dieser bizarren Begegnung nicht
verkneifen konnte. Auch um Marianas Lippen zuckte es, und
sie sagte: „Ja, schön. Sicher haben Sie nichts dagegen, wenn ich
Ihnen meine Schwester jetzt entführe, oder?"
Oxford richtete sich auf und lächelte breit. „Aber keines-
wegs! Im Gegenteil, diese Wendung macht es nur umso dringli-
cher, dass ich Lady Calpurnia in Allendale House aufsuche."
„Das wäre reizend, Mylord", sagte Callie in einem Ton, den
jeder außer ihm als nicht allzu einladend erkannt hätte. Sie
nutzte die Gelegenheit zur Flucht und lief zu Mariana. Oben an
der Treppe winkte sie Oxford noch einmal kurz zu und folgte
dann ihrer Schwester in den Schneidersalon.
„Ich kann nicht fassen, dass er dich mitten auf der Straße
aufgehalten hat. Glaubst du, dieser Mann hat überhaupt ir-
gendetwas im Kopf?", stieß Mariana hervor.
Callie grinste. „Außer seinen Zähnen?"
Die Schwestern lachten und begaben sich dann zu Juliana,
die Madame Hebert schon angesprochen hatte. Wie von Mari-
ana vorhergesagt, hatte die Schneiderin offenbar entschieden,
es sei gut fürs Geschäft, wenn sie Julianas gesamte Garderobe
anfertigte.
Bald waren sie von einer Schar Näherinnen umringt. Einige
waren bereits damit beschäftigt, Julianas Maße zu nehmen, an-
dere schleppten ballenweise Stoff in allen erdenklichen Farb-
schattierungen und Qualitäten herbei. Eine kleine junge Frau
mit Brille hockte auf einem Schemel und machte sich Notizen,
als Mariana sich ins Gespräch mischte.
„Sie braucht mindestens sechs Abendkleider ... sechs Stra-
ßenkleider, drei Reitkleider, ein Dutzend Hauskleider, fünf
Promenadenkleider ..." Sie machte eine Pause, damit die Ge-
hilfin der Schneiderin mit Schreiben nachkam.
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