Sarah Pauli 03 - Tod hinter dem Stephansdom
wusste sie längst, wo er war, und würde sie ihn auch hier töten?
Er ging auf Zehenspitzen zur Wohnungstür und schaute durch den Spion. Das Stiegenhaus schien menschenleer. Diese Irre konnte natürlich im toten Winkel stehen und, sobald er die Tür einen Spalt öffnete, das Überraschungsmoment nutzen und ihn überwältigen. Wenn sie ihn verfolgt hatte, dann wusste sie, dass er jetzt allein in Jennys Wohnung war. Er legte sein Ohr an die Tür und lauschte. Das einzige Geräusch, das er vernahm, war sein eigenes Atmen.
Jenny hatte ihm einen Reserveschlüssel dagelassen. Er steckte ihn ins Schloss und drehte den Schlüssel zwei Mal herum. Sollte es läuten, würde er einfach nicht öffnen. Jenny war zur Arbeit gegangen, und er erwartete niemanden. Auf leisen Sohlen entfernte er sich wieder von der Tür, machte eine Runde durch die Wohnung und ließ auch an den anderen Fenstern die Jalousien herunter. Dann machte er überall Licht und sah sich um. Jenny besaß viele Bücher. Sie hatte ihm nicht erzählt, dass sie gern las. Aber sie sprach selten über sich oder ihre Vorlieben. An den Wänden hingen Poster, Drucke von Bildern, die er nicht zuordnen konnte. Irgendwas Abstraktes. Je länger er sich umsah, desto klarer wurde ihm, dass er nichts über Jenny wusste. Welche Hobbys hatte sie? Was unternahm sie in ihrer Freizeit? Was wollte sie vom Leben? Wen liebte sie?
Nichts wusste er.
Er ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Die Decke lag noch da, er schob sie zur Seite. Er wollte nur hier sitzen und darauf warten, dass der unheilvolle 26. Oktober zu Ende ging.
Irgendwann bekam er Hunger, stand auf und ging in die Küche. Der Inhalt von Jennys Kühlschrank entsprach nicht seinem Klischee vom Leben einer erkrankten Junggesellin. Der Kühlschrank war voll. Wurst, Käse, Fleisch, Joghurt, Gemüse. Er nahm Wurst und Käse heraus. Im Brotkorb fand er frisches Vollkornbrot. Er machte sich ein Sandwich und nahm sich ein Mineralwasser. Es wäre der geeignete Zeitpunkt gewesen, sich zu betrinken. Aber ihm war nicht nach Alkohol zumute.
Mit den Broten und der Wasserflasche ging er zurück ins Wohnzimmer und setzte sich an den kleinen Tisch.
Während er aß, grübelte er darüber nach, wer seine Verfolgerin sein konnte. Uschi? Elke?
Unwahrscheinlich. Die beiden hatten relativ wenig mit Gerhard und Oskar zu tun gehabt. Auch alle anderen Stammkundinnen schieden aus.
Irgendwann kam er zu dem Entschluss, dass es niemand seiner Gäste sein konnte. Nur eine Fremde kam in Frage.
Bei jedem Geräusch, das an sein Ohr drang, schreckte er auf und hielt den Atem an. Schließlich stellte er den Fernseher wieder an.
In den Spätnachrichten war Gerhard Levics Tod die Hauptmeldung. Die Moderatorin erklärte, dass die Polizei erste Spuren verfolge. Er wusste nicht, ob ihn diese Nachricht beruhigen sollte. Auf die nachfolgende Dokumentation konnte er sich nicht konzentrieren, schaltete deshalb den Fernseher wieder aus.
Er fühlte sich einsam. Seine Brust schmerzte. Lange Zeit saß er einfach nur da. Die Angst und seine kreisenden Gedanken waren die einzigen Verbündeten, die ihm Gesellschaft leisteten. Die Zeit kroch im Schneckentempo dahin. Als er zum x-ten Mal auf die Uhr sah, war es erst kurz nach zehn. Dieser Feiertag schien kein Ende zu nehmen.
Schließlich besiegte Langeweile die Angst, und Mario Kaiser schlief ein.
Der 26. Oktober war noch immer nicht vorbei.
Montag, 29. Oktober
29
SARAH PAULI
W ie geplant hatte Sarah am Feiertag mit Chris zusammen das Grab ihrer Eltern neu bepflanzt.
Währenddessen rief David an und berichtete ihr von dem Mord an Gerhard Levic. Laut ersten Meldungen hatte seine Ehefrau ihn gefunden, die nach Wien gefahren war, weil er nicht wie vereinbart im gemeinsamen Haus im Burgenland angekommen war und auch nicht ans Telefon ging.
Stepan war bereits in der Redaktion und hatte sich der Geschichte angenommen.
Inzwischen überschlug sich die Presse bereits mit Meldungen zum Thema. Ab nun gab es kein Halten mehr. Man erging sich in Spekulationen über dubiose Drogengeschäfte, in die die beiden verstrickt waren, über dunkle Geldgeschäfte, über die Russenmafia, über Auftragskiller, geschickt von Konkurrenzunternehmen aus dem Osten, denn dort saßen ja bekanntlich die brutalsten Totschläger … Mit einem Wort: Man hatte keine Ahnung, was passiert war. Fakt war, dass Gerhard Levic von seiner Ehefrau in seiner Wiener Wohnung erstochen aufgefunden worden war.
Sarahs Kollegen waren damit
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