Sarahs Moerder
Scheren, Bleistifte. Helft mir, ’ne kleine Spende, vergelt’s Gott.«
Eine Signora kaufte eine Schere.
Ich stieg aus, ging über die Gleise und wartete auf die Bahn in die Gegenrichtung. Ich wollte plötzlich unbedingt nochmal in die Via del Parco Mastriani. Keine Ahnung, wieso. Vielleicht wurde ich langsam besessen und sollte lieber nach Hause fahren. Aber irgendwie konnte ich nicht anders. Ich musste nochmal hin.
Um reinzukommen, klingelte ich bei dem Lehrer, da war keiner. Dann versuchte ich es bei den Caputo, aber die Philippinin sagte, dass sie ohne Erlaubnis niemandem aufmachen dürfte. Die Frau von Anwalt Santoro hat ein Riesentheater gemacht. Zum Glück kam in diesem Moment eine Verwandte von den Lo Russo aus dem Haus, sonst wäre ich gar nicht reingekommen.
Der Hausflur lag wie immer im Halbdunkel. Und wieder diese Stille wie beim ersten Mal. Ich machte Licht, schaute mich um und drehte eine Runde, um nochmal alles zu kontrollieren, auch wenn ich den Flur inzwischen in- und auswendig kannte. Erst mal bin ich zu dem Brunnen, aber die Eisenrohre lagen nicht mehr da, die Spurensicherung hatte sie mitgenommen. Ich ging zu der Wand an der Treppe. Die beiden Abdrücke waren immer noch zu sehen, nur etwas blasser. Dann ging ich zum Aufzug und fuhr mit dem Finger über das Glas. Wie der Commissario vermutet hatte, war alles sauber, ich fand keinen Staub.
In Wahrheit hatte ich keine Ahnung, was ich überhaupt suchte. Aber ich hatte ein komisches Gefühl, als ob plötzlich irgendwas rauskommen könnte, so dass alles klar wäre. Und ich sah nochmal Sarahs Augen, die mich anschauten. Wieder hatte ich den Eindruck, dass sie mir was sagen wollte und ich nicht darauf geachtet hatte. Während ich so dastand, ging im ersten Stock eine Tür auf und Sarahs Mutter kam raus.
»Birba …«, rief sie, keine Ahnung, wen. »Birba, wo bist du, meine Schöne?«
Hinter dem Aufzug huschte wie ein Gespenst Sarahs Katze hervor. Sie war dünner geworden, auch das Fell, und war fast ganz grau. Sie sprang zwei Stufen hoch, dann kam sie zurück in meine Richtung. Sie roch an meinen Stiefeln und lief dann raus in den Garten. Als Sarahs Mutter sich runterbeugte, um die Katze zu suchen, sah sie mich.
»Guten Abend«, sagte ich.
Sie schaute mich an und wusste erst mal nicht, wer ich war.
»Heute im Kommissariat …«, erklärte ich.
»Ach ja.«
»Ich suche immer noch nach Indizien.«
Sie schaute mich weiter an, dann sagte sie:
»Kommen Sie, trinken Sie einen Kaffee mit mir.«
»Ich will nicht stören, Signora.«
»Nur einen Kaffee. Der ist gerade fertig.«
Ich wollte nicht hoch zu ihr, ich kam mir wie ein Eindringling vor.
»Es ist schon ziemlich spät.«
»Nur fünf Minuten.«
»Na gut, aber wirklich nur fünf Minuten.«
Die Signora ließ mich auf dem Sofa Platz nehmen und brachte mir den Kaffee.
»Ein Löffel?«
»Ja, danke.«
Sie rührte Zucker in den Kaffee.
»Wissen Sie, was ich an Sarah am meisten mochte?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht, vielleicht die Augen?«
Sie gab mir die Tasse und musste lächeln.
»Sie haben Recht, sie hatte schöne Augen. Nein, ich meinte ihren Charakter.«
Ich schüttelte den Kopf und wartete, dass sie weitersprach.
»Ihre Neugier.«
»Ich hab gedacht, als ich ihr Zimmer gesehen hab mit all den Sachen, dass sie ein ganz besonderes Mädchen gewesen sein muss.«
»Das stimmt, Sarah war besonders. Ein wenig schüchtern, aber sie konnte immer zuhören, war immer auf der Suche nach Orten, wo sie noch nie gewesen ist und um Leute kennenzulernen, die anders waren.«
»Wie diesen Genny Esposito.«
»Ja. Sie fühlte sich von allem angezogen, was nicht banal oder offensichtlich war.«
»Er ist es nicht gewesen.«
»Umso besser«, sagte sie seufzend.
Dann nahm sie eine Blechbüchse von einer Kommode mit Fotos von ihrer Tochter, die sie mir zeigen wollte. Sie setzte sich neben mich und holte vorsichtig eins nach dem anderen raus, als ob die heilig wären.
»Das war letzten Sommer in Roccaraso.«
Sarah saß auf einem weißen Pferd, das dreimal so groß war wie sie. Sie hatte die Augen aufgerissen und sah erschrocken aus, als könnte wer weiß was passieren.
Auf dem nächsten Foto saß sie immer noch auf dem Pferd, aber jetzt zufrieden, und streckte dem, der sie anschaute, die Zunge raus.
»Sie ist im Sommer nicht gern an den Strand gegangen«, sagte die Mutter. »Zu viele Leute, zu viel Chaos.«
»Ich kann Chaos auch nicht leiden«, rutschte es mir raus.
Aber sie hörte nicht zu
Weitere Kostenlose Bücher