Sarg-Legenden
Häusern, auf der Straße, schauten auch aus irgendwelchen Fenstern und wirkten wie Skulpturen, die ein Künstler in den Ort gestellt hatte.
Auch Frauen und Kinder befanden sich darunter. Aller Augen schauten uns an, doch niemand dieser Starrer sprach ein einziges Wort.
Neben unserem Rover blieben wir stehen. »Verstehst du das, John?«
»Kaum.«
»Sie wissen alle etwas, aber sie tun nichts dagegen. Lieber leben sie unter diesem verdammten Druck. Das ist es, was ich nicht begreifen kann.«
»Es ist ihre Angst, Suko. Die Angst vor den Dingen, die niemand begreift oder begreifen will. Es ist auch schwer, als Tatsache hinzunehmen, was ihnen immer wieder durch die verdammten Kilrains mitgeteilt worden ist. Sie haben anscheinend den Tod überwunden. Wie sie es schafften, weiß ich nicht, aber es könnte sein, daß wir auf dem Friedhof und in dem Haus dort oben eine Antwort finden.«
»Hoffentlich.«
Zugleich stiegen wir ein. Keiner der Menschen bewegte sich. In der offenen Tür des Gasthauses standen Averell Clifton und Jorge O’Leary. Ihre Mienen waren starr und finster.
Selbst auf der Straße hielten sich einige Zuschauer auf. Ich mußte um sie herumfahren. Sehr dicht und auch sehr langsam rollte ich an einer Mutter vorbei, die ihr Kind an der Hand hielt, ein etwa zehnjähriges Mädchen. Ich schaute in das Gesicht der Frau. Was ich darin las, war die nackte Angst. Ich fragte mich, welches düstere Geheimnis den Kilrain-Clan tatsächlich umgab…
***
Der Weg zum Friedhof der Kilrains war beschwerlich. Nicht für uns, sondern für den Wagen, der mehr schaukelte als fuhr. Wir sahen den Bach wieder, wir rollten an einer Trauerweide vorbei, und vor uns tauchte der Friedhof auf.
Er war noch nicht gut zu sehen. Ein anderer Gegenstand interessierte uns viel mehr.
Es war Bills Porsche!
Verlassen stand er im Gras und wirkte noch flacher, als er es tatsächlich war.
Da es von diesem Parkplatz nicht mehr weit bis zum Friedhof war, stellten wir unseren Rover neben Bills Wagen ab und stiegen aus. Wir untersuchten ihn nur von außen. Er war abgeschlossen. Im Innern sahen wir nichts, was auf Bills neuen Standort hingedeutet hätte.
»Ist das eine Spur, John?«
Ich stand neben der Fahrerseite. »Keine Ahnung. Aber Bill hat es sich bequem gemacht. Er ist bis zum Friedhof vorgefahren, um nicht so weit laufen zu müssen.«
Das Haus war gut zu sehen. Es stand auf dem Hügel, als wollte es den kleinen Friedhof bewachen. Das Wetter hatte sich gehalten, auch die Luft war nach wie vor klar, und deshalb wirkte das Haus wie ein düsterer Scherenschnitt.
Es war später Nachmittag. Jetzt, im März, waren die Tage noch länger hell, und wir hatten uns vorgenommen, noch bei Tageslicht in das Haus einzudringen. Zunächst einmal war der Friedhof an der Reihe. Die beiden geparkten Wagen blieben hinter uns zurück. Mit langsamen Schritten näherten wir uns dem Areal und sahen als erstes den Zaun, der fast überall eingeknickt war und am Boden lag. Sein Gitter wirkte wie eine große Schlange, die sich in das Gras gedrückt hatte.
»Was haben die beiden hier gefunden?« sprach ich vor mich hin.
»Doyle wollte die Geister der Toten fotografieren und ihre Stimmen aufnehmen. Die Aufnahme kann ich noch verstehen, John. Aber einen Geist auf ein Bild zu bannen, das ist unmöglich.«
»Man nennt ihn auch den Irren.«
»Das trifft in diesem Fall zu.«
Nur wenige Schritte waren es bis zur Grenze des Friedhofs. Im Gras blieben wir stehen. Es war sehr still in unserer Umgebung. Der Frühling hatte mit seiner ersten Wärme dafür gesorgt, daß sich einige Falter bereits taumelnd durch die Luft bewegten und die laue Luft genossen.
Der Friedhof war nicht flach. Man hatte die Toten auf einem relativ hügeligen Gelände bestattet. Es gab Mulden und Erhebungen. Aufgrund dieser Formation wirkten die Grabsteine unterschiedlich groß. Alte Dinger, sehr grau und mit einem Film aus Moosen und Flechten bedeckt.
Totenruhe herrschte hier.
Aber was befand sich unter der Oberfläche? Wie hatten es die Kilrains geschafft, das Leben auch noch im Tod auf ihre Weise fortzuführen? Wir hatten keine Antwort auf diese Frage, aber wir wollten den Friedhof einer genauen Kontrolle unterziehen.
Schon nach den ersten Schritten hatten wir einen besseren Überblick. Es war ein Anblick, der uns schockte und uns zum Anhalten zwang.
ln einer dieser Mulden, in die uns zuvor die Einsicht verwehrt worden war, stand der offene Sarg. Der Deckel lag daneben. Er wirkte
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