Sarg niemals nie
Schatten verschmolzen. Sie näherten sich langsam und suchten sich einen Weg zwischen den Grabsteinen.
Ich ging in die Hocke. »Das sind keine Bauern«, flüsterte ich. »Das sind Vampire.«
»Wie haben sie uns gefunden?«, fragte John.
»So schwer kann das nicht gewesen sein«, überlegte ich. »Sie brauchten nur der Meute mit den Fackeln zu folgen.«
»Dies ist das dritte Mal, dass Sie Vampire erwähnen«, sagte Mary. »Was geht hier vor?«
»Also, das ist so …«, setzte John an.
»Das erklären wir Ihnen später«, unterbrach ich ihn. »Wir müssen verschwinden, ehe sie uns entdecken. Vampire kann ich im Augenblick überhaupt nicht brauchen.«
»Nimm den Sarg!« John hob schon das eine Ende an.
»Noch nicht.« Ich fasste Gwen an den Schultern. »Zuerst müssen wir sie retten.«
»Diese Frau wollte Sie umbringen«, erinnerte Mary mich.
»Aber nun rücken Vampire an.« Ich hob Gwen hoch. »Nach allem, was die uns über ihre Rekrutierungsmaßnahmen erzählt haben, sollten wir Gwen nicht bewusstlos liegen lassen. Da könnten wir ihr auch gleich selbst das Blut abzapfen.«
»Das ist die rechte Haltung!«, rief John.
»Haben Sie denn mit den Vampiren gesprochen?«, wollte Mary wissen.
»Helfen Sie mir erst einmal, Gwen über den Zaun zu hieven.« Ich sah mich rasch nach den Vampiren um, die schon viel näher gekommen waren. John umfasste das gusseiserne Gitter und wollte hinüberklettern, doch Mary hielt uns zurück.
»Dort drüben gibt es ein Loch«, sagte sie und deutete zu einer Stelle in der Dunkelheit. »Ein Hund oder ein Fuchs hat sich unter dem Sockel durchgegraben. Ich habe es entdeckt, als ich vorhin hinuntergefallen bin. Beeilen Sie sich!« Sie trat an den Zaun heran und deutete auf eine Stelle dicht über dem Boden, wo mehrere Steine fehlten. Sie waren von der anderen Seite hereingedrückt worden. »John zuerst, dann schieben Sie ihre Arme durch, und wir ziehen sie hinüber.«
»Sind Sie sicher, dass ein Mensch durch dieses Loch passt?«, fragte ich. Ich bückte mich, um es mir genauer anzusehen. »Außerdem habe ich keine Ahnung, wie wir den Sarg auf die andere Seite bekommen.«
»Je enger, desto besser, würde ich sagen«, wandte John ein. »Das vermittelt uns eine schöne Vorstellung des Geburtsvorgangs.«
»Geburtsvorgang?«
»Du weißt schon«, erklärte John. »Du wirst durch einen engen Durchlass gequetscht, aus dem du dich nicht befreienkannst, aber wenn du auf der anderen Seite herauskommst, bist du ein neuer Mensch und beginnst ein neues Leben.«
»Sie wissen aber schon, dass wir uns im Augenblick in der richtigen Welt und in keiner literarischen Metapher befinden, oder?«, erkundigte sich Mary.
»Darauf würde ich nicht bauen.« Ich stocherte in dem Loch herum und versuchte es zu erweitern.
»Inwiefern unterscheidet sich denn die richtige Welt von der Literatur?« John legte sich flach auf den Boden und schob sich in die Maueröffnung hinein. »Wenn Bilder einer Dichtung Tiefe und Sinn verleihen können, dann vermögen sie das doch sicher auch im richtigen Leben zu leisten, oder nicht?«
»Mir liegt eher daran, mich vor den Leuten zu schützen, die meinem Leben ein Ende setzen wollen«, widersprach ich. »An Tiefe und Sinn habe ich zurzeit wenig Bedarf.«
»Welchen Zweck hätte das Bild der Geburt in diesem Fall überhaupt?« Mary versuchte John an den Armen aus dem Loch zu ziehen. »Wollen wir ein neues Leben als Grabräuber beginnen? Das gelänge bei mir allerdings nicht.«
»Vielleicht wissen wir nicht immer, wie unser neues Leben beschaffen ist.« John schnitt eine Grimasse, während er zum Ausgang der Öffnung kroch. »Vielleicht müssen wir es erst noch herausfinden. Oder, noch wahrscheinlicher, wir wissen es die ganze Zeit, begreifen es aber erst im Licht späterer Ereignisse.« Er stand auf, klopfte sich den Staub von der Hose und deutete auf Gwen. »Schieb sie durch!«
»Eins weiß ich ganz genau«, sagte ich, während ich Gwen auf den Boden legte und ihre Arme durch dasLoch zwängte. »In Gwens Fall greift das Bild ziemlich kurz. Sobald du sie durchgezogen hast, werfe ich den Sarg hinüber, und wir legen sie hinein. Nur so können wir sie tragen.«
»Welch wundervolle Melancholie!«, rief John. »Vielleicht liegt hier die wahre Bedeutung unserer Metapher – in der Flüchtigkeit des Lebens. Ein so kurzer Weg vom Mutterschoß zum Sarg, so wenig Bedeutendes dazwischen. Beide sind dunkel, eng und äußerst einsam.«
»Hören Sie auf zu jammern, und helfen Sie mir
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