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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Sedentem in supernae.
    Die Melodie schwang sanft durch den hohen Kirchenraum. Osmund lächelte zufrieden, während er lauschte. Er war wirklich uralt. Sein großer runder Schädel war bis auf ein paar dünne weiße Haarbüschel hinter den Ohren völlig kahl. Die Gliedmaßen seines einst so stämmigen Körpers waren nur noch Haut und Knochen. Aber immer noch war er ganz Herr seiner Sinne, und wenn er Edwards Arm beim Gehen nahm, tat er es nicht, weil er es nötig gehabt hätte, sondern weil es ihm Spaß machte.
    Er war an jenem Nachmittag mit seiner Familie in die Kathedrale gekommen, weil er den eben vollendeten Turmhelm bewundern und seinen jährlichen Rundgang durch das Bauwerk vor der Messe des Kindbischofs machen wollte. Es bereitete ihm Freude, hier auf eine Statue, dort auf ein Kapitell, selbst auf einen weit entfernten Blattknauf in der Wölbung hinzuweisen und seinem geduldigen Sohn und den Enkelkindern jedes der vielfältigen Details daran zu beschreiben und dabei den Namen des längst verstorbenen Steinmetzen zu erwähnen, der das Stück geschaffen hatte. Nur er erinnerte sich noch der Namen, und nach ihm würden diese anonymen Künstler in Vergessenheit geraten. Er wußte, daß es nicht anders sein konnte.
    »Ein Steinmetz braucht keinen Namen«, sagte er. »Er lebt im Stein weiter.«
    Erst nach einer besonders eingehenden Besichtigung des Kirchenschiffs und des Chors eine Stunde zuvor hatte der unermüdliche alte Mann seine Familie in den Kreuzgang geführt. Von dort aus waren sie in den Kapitelsaal gegangen. Und hier beging Osmund die Sünde.
    Nun zog die Prozession der Chorknaben durch die Kirche. Der Kindbischof, ein hellhaariger Bursche mit einem verschlagenen Gesicht, schritt mutig hinauf zum großen Bischofsthron. In der Hand hielt er den Bischofsstab mit dem kunstvoll gearbeiteten gebogenen Ende. Er war doppelt so hoch wie der Junge, was den komischen Aspekt der Zeremonie noch unterstrich.
    Der Junge wandte sich um und segnete die Menge, wobei er einen monotonen Gesang anstimmte. Osmund stellte fest, daß er eine hübsche Stimme hatte. Manchmal hielt der Kindbischof an einem solchen Tag eine Moralpredigt, in der er üblicherweise die Chorknaben einzeln und namentlich wegen ihrer Sünden ermahnte, und die Zuhörer hatten Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. Wenn die Messe vorüber war, gaben die Chorherren ein üppiges Fest für ihre jungen Mitbrüder. An diesem speziellen Tag durften sie sich mit Kalbfleisch, Hammel, Ente, Würsten, Waldschnepfen und Kiebitzen vollstopfen – mit all den herrlichen leiblichen Genüssen, die die umliegenden Täler und Höhen den glücklichen Chorherren von Sarum boten.
    Die Jungen freuten sich auf ihr Fest. Die Gläubigen waren bester Stimmung, doch Osmunds Gedanken kehrten zum Kapitelsaal zurück.
    Er war einige Monate lang nicht dort gewesen. Das gedämpfte Nachmittagslicht fiel sanft durch die großen Fenster auf die Wände. Schweigend stand Osmund da, etwas abseits von den übrigen, und während er sich langsam um sich selbst drehte, ließ er seine Augen über die Flächen zwischen den Bögen der hohen Chorherrensitze wandern. Da waren sie, die sechzig Basreliefs, angefangen von der Schöpfung bis zur Übergabe der Gesetzestafeln an Moses – Osmunds Werk. Und wie er sie so betrachtete, da wußte er, daß sie aufs vollkommenste gelungen waren.
    Bei all seinen Fehlern war er doch stets ein demütiger Mann gewesen. Er hatte Befriedigung in der Arbeit gefunden, er war tief beglückt, wenn er das Wesen eines Menschen oder Tieres in seiner Darstellung einfangen konnte. Er empfand Freude, wenn sein Werk gelobt wurde, und eine gewisse Selbstachtung, wenn er sich ganz sicher war, daß ihm ein Stück geglückt war.
    Doch nun, als er die vor so langer Zeit geschaffenen Reliefs betrachtete, empfand er zum erstenmal in seinem Leben einen wilden, überwältigenden Triumph. Hätte der alte Kanonikus Portehors noch gelebt, hätte der ihm sofort gesagt, daß dies die schwerste der sieben Todsünden ist. Das war so gewesen: Plötzlich packte der alte Mann seinen Sohn beim Arm und rief: »Ich habe das geschaffen! Ich habe sie alle in Stein gehauen. Und es gibt nichts Besseres in der Kathedrale, in ganz England nicht!«
    »Sie sind ausgezeichnet«, stimmte Edward leise zu. »Ausgezeichnet?« Osmund lachte. »Es hat seit dem Beginn der Kathedrale keinen in ganz Sarum gegeben, der es mir hätte gleichtun können.«
    So beging Osmund der Steinmetz in seinem achtzigsten Jahr

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