Sarum
vorbei war.
Roger konnte nichts dagegen unternehmen. Er führte das Anwesen in Avonsford, so gut es ging, aber er war nur mit halbem Herzen dabei. In einem Anfall von Schwärmerei ließ er das alte Labyrinth talaufwärts wieder instand setzen und verbrachte viele Stunden allein dort. Aber er betete nicht und las auch nicht – er selbst hätte kaum sagen können, was er eigentlich dort tat.
Als sein Sohn Gilbert heranwuchs, gab er ihm nur den einen Rat: »Zieh in den Krieg, wenn du kannst. Hast du Erfolg, kannst du vielleicht den Besitz zurückkaufen, den ich verloren habe.«
Er hoffte, daß der Junge ihm vergeben würde, aber er war sich dessen nicht so sicher. Gilbert blickte seinen Vater nur an und machte sich seine eigenen Gedanken.
Hoch oben an der Spitze des Turmhelms hing das Gerüst wie ein Adlerhorst. Das Werk war vollendet, und nun wurde dieses Gerüst abgebaut; danach wurden die Löcher, in denen die Stützen gesteckt hatten, mit Steinzapfen verschlossen, die mit Eisengriffen versehen wurden, damit man sie bei zukünftigen Reparaturen wieder herausnehmen konnte. Der Turmhelm wurde vom Deckstein gekrönt: mehrere Steine, die in vier Schichten übereinandergelegt und mit Eisenzwingen zusammengefügt waren. Auf dem Deckstein erhob sich ein großes Eisenkreuz. Das Kreuz der Kathedrale von Salisbury hatte nicht nur eine schmückende Funktion. Aus seiner Mitte zog sich eine Stange unmittelbar durch den Deckstein wie eine Wurzel hinunter zu dem Holzgebälk innerhalb des Helms, mit dem sie durch eine verstärkende Vorrichtung verbunden war. Dadurch erreichten die findigen Steinmetzen, daß der Innendruck des Kegels ausgeglichen wurde.
Ein weiteres Detail war notwendig, und wenn es auch keine strukturelle Funktion hatte, stand doch außer Frage, daß es für die Sicherheit des Bauwerks ebenso entscheidend war wie alles andere, was die klugen Baumeister ersonnen hatten. In den Deckstein wurde ein rundes, mit Blei ausgekleidetes Kästchen ehrfürchtig versenkt; es enthielt ein Stückchen Stoff von dem Gewand der Heiligen Jungfrau Maria. Als daraufhin der Deckstein versiegelt und das große Kreuz befestigt wurden, hatte nach fast einem Jahrhundert der Bautätigkeit die Kathedrale Unserer Lieben Frau zu Sarum ihre Vollendung erreicht.
Bald darauf stand, an einem dämmrigen Dezembernachmittag, Edward Mason im Schiff der Kathedrale und starrte seinen Vater ungläubig an. »Unmöglich!«
Doch Osmund war unbeugsam, und was Edward auch einwenden mochte – er ließ sich nicht zur Vernunft bringen. Denn am Fest der Unschuldigen Kinder im Jahr des Herrn 1310 beging Osmund der Steinmetz im achtzigsten Lebensjahr seine letzte und schwerste der sieben Hauptsünden. Schlimmer noch: Er hatte allem Anschein nach seine Selbstzerstörung beschlossen. Der Tag der Unschuldigen Kinder war in Sarum ein wichtiger Tag im Kirchenjahr, denn es fand ein ebenso kurioses wie köstliches Ereignis statt: das Fest des Kindbischofs.
Das Kirchenschiff war voll von Menschen. Die Zeremonie sollte eben beginnen. Ganz Sarum war herbeigeströmt, um sie mitzuerleben. Die Kaufmannsfamilie der Shockleys war da; Mary Shockley, nun grauhaarig, hatte sich von ihrem Hof herbemüht. Roger de Godefroi aus Avonsford hatte seinen Sohn Gilbert mitgebracht, und obwohl weder John noch Cristina erschienen waren, hatte doch der junge Walter Wilson seine Aalreusen im Fluß im Stich gelassen und war an jenem Nachmittag über die Felder getrottet, um bei dem Spektakel dabeizusein. Diese ungewöhnliche, fröhliche Angelegenheit war irgendwann im vorhergehenden Jahrhundert eingeführt worden.
An diesem Tag hatten die Chorknaben nach der alten Manier eines Verwechselspiels die Erlaubnis, die Kathedrale in Besitz zu nehmen und die Geistlichen auf den zweiten Platz zu verweisen. Nicht nur das: Die Jungen wählten einen Bischof aus ihren Reihen, der während des Festes in der Kathedrale herrschte.
Während es allmählich leiser wurde, hoffte Edward nur, daß der alte Mann inzwischen seine verrückte Idee vergäße. Die Menge hatte ihnen aus Verehrung für Osmund einen guten Platz freigehalten, denn er war wohl der älteste Mann in Sarum. Zu Beginn der Zeremonie geleiteten die Chorknaben, feierlich in Chormäntel gehüllt und brennende Wachskerzen in den Händen, den Kindbischof zum Altar der Heiligen Dreifaltigkeit und aller Heiligen. Dort wurde die Lesung vom Fest der Unschuldigen Kinder aus der Offenbarung vorgetragen, bevor der Knabenchor den Vers anstimmte:
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