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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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schließlich die Todsünde des Hochmuts.
    Als sie durch den Kreuzgang zurückgingen, glühte der alte Mann vor innerem Feuer. In dieser Stimmung erklärte er seinem entsetzten Sohn: »Morgen früh besuchen wir den Turm… und ich klettere auf die Spitze.«
    Der folgende Tag war ungewöhnlich warm und klar. Die beiden Männer standen ari der Brüstung, der alte Mann ungeduldig erregt, der jüngere eher besorgt und voller Mißbehagen.
    »Wenn ich ihn heute davon abhalte, auf den Turm zu steigen«, hatte Edward zu seiner Frau gesagt, »findet er bestimmt eine Gelegenheit, ein andermal davonzuschleichen. Es ist besser, ich begleite ihn und passe auf ihn auf.«
    »Er kommt die Treppen sowieso nicht hoch«, hatte sie gemeint. Davon war Edward weniger überzeugt, und nun sah er erstaunt, wie sein Vater hinaufstieg: langsam, aus Gründen der Sicherheit, jedoch unverdrossen; er blieb nur auf der Höhe des Obergadens und noch einmal auf der ersten Plattform des Turmes stehen.
    »Der Alte ist wie eine Ameise«, murmelte Edward. »Er gibt sich einfach nicht geschlagen.« So mühsam das Unterfangen auch war, er mußte die unglaubliche Ausdauer seines Vaters bewundern. Während Osmund die vertraute Wendeltreppe in den Turm hinaufstieg, konnte er sich nicht erinnern, sich je in seinem langen Leben besser gefühlt zu haben. Vielleicht fiel ihm das Steigen leicht, weil er sich als Teil des Bauwerks empfand, vielleicht auch, weil seine Gedanken auf das Ziel gerichtet waren. Als er endlich oben auf dem Turm ins Freie trat, brummte ihm der Schädel, und er mußte erst wieder festen Stand bekommen, doch bald war er völlig entspannt und ging unterhalb der Schrägwände über der oktogonalen Basis des Turmhelms um die Brüstung herum.
    Den verrückten Einfall vom Tag zuvor hatte er anscheinend vergessen. Zu Edwards Erleichterung sah Osmund kaum nach oben. Er hatte anscheinend auch Edward vergessen, wie er da herumging, die Aussicht betrachtete, die Maurerarbeit begutachtete und vor sich hin murmelte. Er machte die Runde einige Male. Zweimal beugte er sich auf der Nordseite über den Rand der Brüstung und schaute auf eine winzige Steinfigur in einer Nische; das merkwürdig primitive Frauengesichtchen blickte über die Stadt hinweg. Das mußte Osmund wohl eine besondere Genugtuung bereiten, wenn Edward sich auch nicht vorstellen konnte, wieso. Nach einer Weile setzte Edward sich in der wunderbar warmen Morgensonne auf die Brüstung und überließ seinen Vater sich selbst. Einige Minuten später stellte er fest, daß Osmund nicht länger seine Runden drehte. In der Annahme, der alte Mann sei schon wieder auf dem Weg nach unten, sah er auf den vier Treppen nach, doch sein Vater war nicht zu sehen. Da lief er um die Basis des Turmhelms und blickte nach oben.
    Die Eisenringe waren etwas weiter voneinander entfernt angebracht, als Osmund es sich gewünscht hätte. Sie bildeten eine gerade, doch schwindelerregende Linie von der Basis bis zum sechzig Meter höher stehenden Kreuz. Indem er jeden Ring als Stütze benutzte, konnte er sich langsam daran hocharbeiten: Er stellte die Füße auf einen Ring und zog sich mit seinen kleinen Händen, die den nächsthöheren Ring umklammerten, nach oben. Vorsichtig und stetig erstieg er die steile glatte Oberfläche des Kegels und hielt häufig inne. Als Edward ihn entdeckte, hatte er bereits zehn Meter hinter sich.
    Was sollte Edward machen? Sein erster Gedanke war, seinem Vater den bedrohlichen Turmhelm hinauf zu folgen. Doch wenn der alte Mann ausglitt – könnte er ihn überhaupt auffangen? Er zuckte die Achseln. Wenn sein Vater mit seinen achtzig Jahren entschlossen war, seinen Hals auf diese ungewöhnliche Weise zu brechen, warum sollte er ihn daran hindern? Mit wehmütigem Lächeln beobachtete er, wie die zielstrebige kleine Gestalt ihren einsamen Weg fortsetzte. Sein Gefühl sagte ihm, daß der Steinmetz trotz seines Alters nicht stürzen werde. Hinter ihm schlugen die Glocken vom hohen Glockenturm die zehnte Stunde.
    Wie still es war! Das erhabene Oktogon des Turmhelms ragte majestätisch empor, geradewegs in den blauen Himmel hinein, in seinem eigensten Bereich über der Welt, der er offensichtlich in heiterer Gelassenheit gegenüberstand. Das alles ließ ihn gleichgültig: die Shockleys und ihre Mühle, Godefroi und sein Haus – die alle ihren Beitrag zum Bau geleistet hatten. Der Markt, das Kathedralgelände, selbst der Bischof, Dürre und Flut da unten, Säen und Ernten – der Turmhelm stand

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