Sassinak
beobachtete sie mit allen Scanvorrichtungen, die ihr zur Verfügung standen. Stunde um Stunde wurde klarer, daß das Ziel nur die Kolonie sein konnte. Sie planen einen Überfall, dachte Sassinak, und Huron sprach es laut aus und fügte hinzu: »Wir sollten sie aus dem System pusten!« Für einen Augenblick geriet in Sassinak der alte Zorn fast außer Kontrolle, aber sie verdrängte gewaltsam die Erinnerung an ihre Kindheit. Wenn sie diese beiden Schiffe vernichteten, würden sie nichts über die Mächte erfahren, die sie angeheuert hatten, sie deckten und mit Nachschub versorgten. Sie stellte sich bewußt nicht die Frage, ob ein anderer Flottenkommandeur dieselbe Entscheidung über den Angriff auf ihre eigene Heimatwelt getroffen hatte.
Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind auf einer Überwachungspatrouille; das wissen Sie doch wohl.«
»Aber, Captain – unsere Daten sind einige Stunden alt. Wenn es wirklich Angreifer sind, könnten sie jederzeit zuschlagen … wir müssen die Kolonisten warnen. Wir können sie doch nicht einfach …« Huron war blaß geworden, und sie sah einen schrecklichen Zweifel in seinen Augen.
»Befehl ist Befehl.« Sie wandte sich ab und brachte es nicht fertig, seinem Blick zu begegnen. In den Jahren seit der Verleihung ihres Offizierspatents hatte sie viele Dämonen aus ihrer Vergangenheit exorziert; sie konnte mit Admirälen und hohen Regierungsbeamten speisen, höfliche Konversationen mit Aliens führen, ihr Temperament und ihre Leidenschaft unter nahezu allen Umständen bändigen – aber tief in ihrer Seele trug sie immer noch das Bild ihrer sterbenden Eltern mit sich herum, der Leiche ihrer Schwester, die ins Wasser klatschte, ihrer besten Freundin, die sich aus dem fröhlichen Mädchen, das sie gewesen war, in ein zitterndes, deprimiertes Wrack verwandelt hatte. Sie schüttelte den Kopf und zwang sich, den Scans ihre ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Ihre Stimme klang kühl und knapp; sie merkte den Reaktionen der Brückenmannschaft an, daß ihre Leute mitbekamen, unter welcher Anspannung sie stand. »Wir müssen die Verantwortlichen für diese Überfälle finden – unbedingt. Wenn wir diese Parasiten vernichten und nie ihre Herren finden, wird es immer so weitergehen, und noch mehr werden leiden. Wir müssen sie beobachten und ihnen folgen …«
»Aber es war nie vorgesehen, daß wir zuschauen sollen, wie eine Kolonie überfallen wird. Wir … wir müssen sie beschützen – die Charta schreibt es vor!« Huron ging im Kreis, bis er ihr wieder gegenüberstand. »Es liegt in Ihrem Ermessen, in jeder Situation, wenn FES-Bürger direkt bedroht werden …«
»In meinem Ermessen!« Sassinak biß die Zähne aufeinander, um sich nicht zu vergessen, und sah ihn finster an. Es mußte ein strenger Blick gewesen sein, denn Huron wich einen Schritt zurück. Mit gesenkter Stimme fuhr sie fort. »Und in Ihrem Ermessen, Huron, steht es, die Befehle Ihres kommandierenden Offiziers nicht auf der Brücke in Frage zu stellen, wenn Sie nicht den Hauch einer Ahnung haben, was überhaupt vor sich geht. Ermessen heißt, erst nachzudenken, bevor man die eigenen Vorteile zunichte macht …«
»Haben Sie je darüber nachgedacht«, sagte Huron mit blassen Lippen und wütender, als sie ihn je erlebt hatte, »daß jemand dieselbe Entscheidung getroffen haben könnte, als Sie da unten waren?« Er ruckte mit dem Kinn in Richtung des Navigationsdisplays. Sie wartete einige Sekunden, bis die anderen beschlossen hatten, daß es klüger wäre, sich ganz auf ihre Arbeit zu konzentrieren, und der energische Ausdruck verschwand aus Hurons Gesicht.
»Ja«, sagte sie ganz leise. »Ja, das habe ich. Ich stelle mir vor, daß es die betreffende Person nicht in Ruhe läßt, falls wirklich jemand dort war, so wie es auch mich nicht in Ruhe lassen wird.« Daraufhin entspannten sich seine Züge ein wenig, und die Wangen röteten sich. Bevor er etwas sagen konnte, fuhr Sassinak fort: »Glaubst du, es ist mir egal? Du meinst wohl, ich hätte es mir nicht vorgestellt – ein Kind im selben Alter wie ich damals, ein unschuldiges Mädchen oder ein Junge, der nur an die Klassenarbeit morgen in der Schule denkt? Meinst du, ich erinnere mich nicht mehr daran, Huron?« Sie sah in die Runde und stellte fest, daß alle wenigstens so taten, als ließen sie ihnen diesen privaten Moment. »Du hast erlebt, welche Alpträume mich plagen, Huron; du weißt, daß ich es nicht vergessen habe.«
Sein Gesicht war jetzt so rot, wie es eben blaß
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