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Satans Bruder

Satans Bruder

Titel: Satans Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Sessel.
    Der Karton war mit Klebeband verschlossen, das er mit einem Schweizermesser auftrennte. Er nahm mehrere blaue Ordner heraus und legte sie auf den Tisch. Dann setzte er die Brille auf und schlug einen davon auf.
    »Ausgerechnet ...«
    Er gab mir den Ordner. »Dieser Fall hier hat nichts mit Aruk zu tun; ist aber trotzdem interessant.«
    Die elegante Handschrift auf den vergilbten Seiten war dieselbe wie auf der Karte, die ich auf, meinem Kopfkissen gefunden hatte. Es ging um einen Patienten namens »Samuel H.«
    »Sie haben nicht die vollen Namen notiert?«
    »Gewöhnlich schon, doch das hier war ... etwas anderes.«
    Ich las. Samuel H. hatte unter Magen- und Schilddrüsenbeschwerden gelitten, die Moreland über elf Monate mit künstlichen Hormonen und ermutigenden Worten behandelt hatte. Einen Monat später wurden mehrere kleine, gutartige Tumore gefunden und Moreland schlug vor, ihn nach Guam zu schicken, für eine weitere Diagnose und eventuell für eine Operation. Samuel H. war nicht sicher, doch bevor er sich entscheiden konnte, ging es mit seiner Gesundheit weiter bergab: Erschöpfung, Blutergüsse, Haarausfall, Lippen- und Gaumenbluten. Bluttests zeigten einen starken Mangel an roten Blutkörperchen und einen erheblichen Zuwachs an weißen Blutzellen: Leukämie. Sieben Monate später »erlosch« der Patient. Moreland stellte die Sterbeurkunde aus und ließ den Toten zu einer Leichenhalle an einem Ort namens Rongelap bringen. Ich fragte, wo das war.
    »Auf den Marshallinseln.«
    »Am anderen Ende des Pazifiks?«
    »Dort war ich unmittelbar nach Korea stationiert. Die Marine hat mich in der ganzen Region eingesetzt.«
    Ich klappte den Ordner zu.
    »Irgendeine Idee?«, fragte er.
    »Die Symptome weisen auf Strahlenerkrankung hin. Liegt Rongelap in der Nähe des Bikiniatolls?«
    »Sie wissen also von Bikini.«
    »Nur ganz allgemein. Die Regierung hat dort nach dem Zweiten Weltkrieg Atombombentests durchgeführt. Der Wind drehte und so wurden einige Inseln verseucht.«
    »Es waren genau 23 Tests; zwischen 1946 und '58. Das hat hundert Milliarden Dollar gekostet. Die ersten waren Atombomben, die man auf alte Schlachtschiffe fallen ließ, die man von den Japanern erbeutet hatte. Doch dann wurde man immer waghalsiger und begann, die Dinger unter Wasser zu zünden. Die größte Bombe war ›Bravo‹, 1954, die erste Wasserstoffbombe. Der normale Amerikaner hat nie davon erfahren. Verblüffend, nicht wahr?«
    Ich nickte, obgleich ich nicht im Geringsten verblüfft war.
    »Bravo erzeugte eine 25 Kilometer hohe Pilzwolke und der Staub breitete sich über mehrere Atolle aus - Kongerik, Utirik und Rongelap. Für die Kinder war es zuerst ein großer Spaß, eine neue Art Regen. Sie spielten mit dem Niederschlag, probierten, wie er schmeckte.«
    Er stand auf, ging zu einem der Fenster und setzte sich auf die Fensterbank.
    »Der Wind - das habe ich zuerst auch geglaubt. Schließlich war ich ein pflichtbewusster Offizier. Erst Jahre später kam die Wahrheit heraus. Der Wind hatte seit Tagen beständig aus Osten geweht. Beständig und vorhersehbar. Von Überraschung konnte also keine Rede sein. Das Luftwaffenpersonal hatte man evakuiert, doch den Insulanern sagte man nichts. Man hat sie als menschliche Versuchskaninchen benutzt.«
    Er hatte die Fäuste geballt.
    »Die Auswirkungen zeigten sich sehr schnell: Leukämie, Lymphknotengeschwüre, Schilddrüsenprobleme und Immunversagen. Und natürlich Geburtsfehler: Hirnschäden und Neugeborene ganz ohne Gehirn oder Gliedmaßen - wir nannten sie ›Quallen‹.« Er lachte bitter. »Wir haben den armen Teufeln Entschädigung gezahlt. 25.000 Dollar pro Opfer. So viel war irgendwelchen Regierungsbuchhaltern ein Leben wert. 148 Schecks, kaum mehr als eine Million Dollar, ein Hunderttausendstel der Testkosten.«
    Er legte die Hände auf seine knochigen Knie. Seine hohe Stirn war so weiß und glänzend wie ein frisch gepelltes Ei.
    »Ich war an dem Entschädigungsprogramm beteiligt. Bei Nacht und Nebel fuhren wir von Insel zu Insel, in kleinen Motorbooten. Wir kamen an die Strände, riefen die Leute zusammen, händigten ihnen ihre Schecks aus und verschwanden wieder.« Er schüttelte den Kopf. »25.000 Dollar pro Leben. Ein Triumph der Sparsamkeit.« Er nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. »Sobald mir klar wurde, was die Explosionen angerichtet hatten, beantragte ich eine Dienstverlängerung und versuchte, den Leuten zu helfen so gut ich konnte, doch viel konnte ich nicht

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