Satori - Winslow, D: Satori - Satori
beherbergen. Die Lobby war sauber, aber leblos, von aller Dekadenz befreit und bar jeden Anflugs von Luxus und Privilegiertheit, die sie einst zweifellos besessen hatte.
Wenn das Leben im Kapitalismus offensiv geschmacklos war, dachte Nikolai, so war es im Kommunismus übertrieben trist.
Am Empfang bat ihn eine junge Frau im allgegenwärtigen ›Leninanzug‹ – einer grauen, zweireihigen Jacke mit Gürtel – um seinen Reisepass und staunte, als Nikolai ihr diesen mit einer chinesischen Begrüßungsfloskel überreichte:
»Haben Sie heute gegessen?«
»Das habe ich, Genosse. Und Sie?«
»Danke, ja.«
»Zimmer 502. Der Portier wird …«
»Ich trage mein Gepäck selbst, danke«, sagte Nikolai. Er griff in seine Tasche nach einem Schein für den Portier, aber Chen hielt ihn zurück.
»Trinkgelder sind in der Volksrepublik verboten«, erklärte Chen.
»Natürlich«, sagte Nikolai.
»Ein gönnerhafter imperialistischer Anachronismus«, setzte Chen hinzu.
Das ist eine ziemlich schwere Last, dachte Nikolai, für ein kleines Trinkgeld.
Die Fahrt im Fahrstuhl war beängstigend, und Nikolai fragte sich, wann der quietschende Lift das letzte Mal gewartet worden war. Aber sie kamen wohlbehalten im fünften Stock an, und Chen führte ihn über einen langen Gang zu seinem Zimmer.
Es war einfach, aber sauber. Ein Bett, ein Schrank, zwei Stühle, ein Beistelltisch mit einem Radio und eine Thermoskanne mit heißem Wasser für Tee. Das daran anschließende Badezimmer verfügte über eine Toilette und eine Badewanne, aber keine Dusche. Vom Hauptraum aus führte eine doppelflügelige Glastür auf einen kleinen Balkon. Nikolai trat hinaus und blickte von der Vorderseite des Hotels auf die East Chang Street. Zu seiner Rechten konnte er den Platz des Himmlischen Friedens sehen.
»Diese Zimmer sind ganz besonderen Gästen vorbehalten«, erklärte Chen, als Nikolai wieder ins Zimmer trat.
Das möchte ich wetten, dachte Nikolai. Außerdem wette ich, dass sie verwanzt sind, damit jede Unterhaltung der ganz besonderen Gäste mitgehört und aufgezeichnet werden kann. Er zog seinen Mantel aus, bedeutete Chen, dasselbe zu tun und hängte beide Mäntel in den Schrank.
»Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«, fragte Nikolai.
»Sehr freundlich.«
Er füllte zwei Löffel grünen Tee in eine Kanne, goss heißes Wasser auf, wartete einige Augenblicke und verteilte den Tee in zwei Tassen. Normalerweise hätte er ihn nicht schon nach dem ersten Brühvorgang ausgeschenkt, aber er wusste, dass der Brennstoff für das Erhitzen von Wasser wertvoll war und Verschwendung nicht gerne gesehen wurde. Er reichte Chen den Tee, und beide Männer setzten sich.
Nach einer Weile verlegenen Schweigens sagte Chen: »Das tut gut. Wärmt. Danke.«
»Ich habe für Ihre Gastfreundschaft zu danken.«
Chen reagierte bestürzt bei dem Gedanken, der Gast könnte irrtümlich annehmen, sein Hotelaufenthalt sei kostenlos. Er sprach ihn direkt darauf an. »Aber Sie bezahlen Ihr Zimmer doch selbst.«
»Trotzdem«, sagte Nikolai, dem wieder einfiel, wie ungehobelt Chinesen in geschäftlichen Angelegenheiten verfuhren. Ganz anders als die Japaner, die ihren Gast in minutenlangen Umschreibungen darauf hingewiesen hätten, dass er für die Unkosten, die sein Aufenthalt verursachte, selbst aufzukommen hatte.
Chen wirkte erleichtert. »Heute Abend wird zu Ihren Ehren ein Essen gegeben.«
»So viele Mühen und Kosten sind wirklich nicht nötig.«
»Es ist bereits alles organisiert.«
»Ich freue mich darauf.«
Chen nickte. »Oberst Yu, der persönliche Berater von General Peng, wird Ihr Gastgeber sein.«
General Peng Dehuai war ein Nationalheld, einer der wichtigsten Generäle des Langen Marsches und Gründer der legendären Achten-Route-Armee. Bis vor kurzem hatte er die chinesischen Streitkräfte in Korea befehligt und war jetzt Verteidigungsminister. Peng würde dem Verkauf von Waffen durch ›Guibert‹ an die Viet Minh zustimmen müssen. Der Umstand, dass er offensichtlich einen seiner wichtigsten Berater aussandte, um sich gleich am ersten Abend nach Guiberts Ankunft im Land ein Bild von ihm zu machen, war bezeichnend.
Und untypisch für das, was Nikolai über das chinesische Geschäftsgebaren wusste. Normalerweise würde man einen ausländischen Gast zunächst einige Tage, wenn nicht gar Wochen warten lassen und mit niederrangigen Untergebenen und endlosen Stadtrundfahrten auf Trab halten, bevor es ans eigentliche Geschäft ging.
Peng hatte es
Weitere Kostenlose Bücher