Satori - Winslow, D: Satori - Satori
entgegen.
Sein Beschatter zog sich jetzt zurück und überließ ihn einem zweiten Mann, was Nikolai zeigte, dass Guiberts Überwachung eine gewisse Priorität hatte. Das hohe Dach des Kaiserpalastes, leicht erkennbar von Hunderten von Fotografien, ragte vor ihm auf, als er nach einer Stelle Ausschau hielt, die ihm ausreichend Zeit und Raum lassen würde, um Woroschenin zu töten und anschließend zu fliehen.
Nikolai hatte gehofft, die Mauern der Verbotenen Stadt könnten ein solcher Ort sein, aber nun erkannte er, dass das Gebiet viel zu streng bewacht wurde, seit Mao hier eingezogen war und viele der Gebäude in Wohnhäuser für hohe Funktionäre oder in Regierungsbüros verwandelt worden waren.
Nikolai betrat den Palast, der jetzt ein Museum war, um sich aufzuwärmen und seiner Rolle als Tourist Glaubwürdigkeit zu verleihen, und verweilte eine Zeit lang auf dem Gelände (falls an diesem bitterkalten Nachmittag von »Verweilen« die Rede sein konnte), bevor er die Verbotene Stadt wieder verließ. Nachdem er zur Kenntnis genommen hatte, dass ein weiterer Beschatter sich an ihn geheftet hatte, wandte er sich gen Osten und überquerte eine hübsche Brücke über die südlichen Ausläufer des zugefrorenen Beihai-Sees, der sich silbrig glänzend vor den weißen Weidenbäumen an seinen Ufern abzeichnete.
Es war nicht klug, zu selbstsicher auszuschreiten, weshalb Nikolai wieder in die Gangart und das Tempo eines Mannes verfiel, der unbesorgt, aber leicht verwirrt scheint. Er machte an der Ecke zur Xidan Street halt, tat, als überlege er, wohin er gehen solle, und »entschied« sich dann für Norden. Einer seiner Beschatter blieb stehen und beschäftigte sich mit seinem Schal, der andere kam näher, um ihm weiter zu folgen.
Das genügte Nikolai, um unbemerkt einen Blick auf ihre Gesichter zu werfen. Den einen nannte er »Windhund« wegen seiner großen schlanken Gestalt und seiner Schnelligkeit, den anderen Xiao Smiley, eine ironische Anspielung auf seinen mürrischen Gesichtsausdruck. Der Fairness halber, dachte Nikolai, darf man nicht vergessen, dass sich wohl niemand freuen würde, eine schöne warme Hotellobby gegen die eiskalte Straße tauschen zu müssen.
Nikolai beschleunigte seinen Schritt, weil er sehen wollte, ob sein Verfolger an ihm dranbleiben oder ihn an einen weiteren Agenten übergeben würde. Der Windhund wurde ebenfalls schneller, wobei er darauf achtete, weit hinter Nikolai zu bleiben, und folgte ihm durch das Südtor in den Beihai-Park.
Der Park war wunderhübsch, dachte Nikolai, und gehörte zum Besten, was die asiatische Landschaftskunst zu bieten hatte. Um das Oval des Beihai-Sees herum wanden sich Gehwege zwischen anmutigen Reihen aus Weidenbäumen, exakt platzierten Steinen und perfekt positionierten Pavillons. An jeder Biegung ergab sich eine neue Perspektive, und das Ganze kam der vergänglichen Schönheit dessen sehr nahe, was die Japaner als shibumi bezeichnen – unaufdringliche Eleganz.
Jetzt im Winter ähnelte der Park einer vornehmen älteren Dame – schlank aber schön –, die trotz ihres bevorstehenden Kältetods Haltung und Würde bewahrt. Ein Mann mit größerer Sprachbegabung als ich, dachte Nikolai, hätte ein Gedicht über sie verfasst.
Er ging am östlichen Ufer des Sees entlang Richtung Norden und gelangte zu einer Brücke, die auf eine Insel führte. Nikolai las das kleine Schild, das auf die Jadeinsel hinwies und betrat die elegant geschwungene Brücke.
An der höchsten Stelle machte er halt, um den See zu betrachten und sich zu vergewissern, dass der Windhund ihm folgte. Dieser war schlau und schritt an ihm vorbei, ohne die Insel auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen. Ein kluger Schachzug, dachte Nikolai, denn er geht davon aus, dass ich bis zur Jadeinsel weitergehen werde, und falls ich es mir anders überlege, kann er jederzeit umkehren. Träge die Landschaft betrachtend, entdeckte er Xiao Smiley, der an einem Pavillon in der Nähe des Brückenkopfs stehen geblieben war.
Nikolai wandte sich um und lief weiter bis zur dicht bewaldeten Jadeinsel, die in der Mitte von einem hohen weißen Turm auf einem kleinen Hügel geschmückt wurde. Ein schmaler, von Bäumen und Sträuchern gesäumter Weg führte zu dem Turm, den eine Tafel kaum überraschend als »Weiße Pagode« auswies, 1651 zu Ehren des Dalai Lama an lässlich seines Besuchs in der Stadt erbaut.
Absurd, dachte Nikolai, wo die Chinesen doch gerade erst Tibet besetzt hatten.
Der Turm war
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