Satori - Winslow, D: Satori - Satori
bereits abgerissen worden, um Platz für neue Fabriken zu schaffen, schmale Straßen wurden verbreitert, damit Panzer hindurchrollen konnten, und sowjetische Architekten – für Nikolai ein Widerspruch in sich – waren eifrig damit beschäftigt, sterile Wohneinheiten aus Beton zu entwerfen, die die alten Hofhäuser, einst das Zentrum des häuslichen Lebens in Peking, ersetzen sollten.
Hofmauern säumten die Wohnstraßen und hutongs , und nur kleine Türen führten auf die Straße hinaus. Hinter diesen Türen befand sich jeweils eine weitere Mauer, die den Eintretenden zwang, entweder rechts oder links um sie herumzugehen – auf diese Weise wurden die bösen Geister überlistet, die sich nur geradeaus bewegen können. Hinter den Türen befanden sich Innenhöfe, meist mit Kies oder in den wohlhabenderen Häusern auch mit Steinplatten bedeckt. Häufig gab es auch ein oder zwei schattenspendende Bäume und eine offene mit Kohle befeuerte Kochstelle, die bei wärmeren Temperaturen genutzt wurde. Je nachdem, wie reich oder arm eine Familie war, bestand das Haus aus ein oder zwei Stockwerken mit Wohnräumen, vielleicht auch noch einem zusätzlichen Anbau für die Familien der Söhne. Pekings Bewohner lebten zurückgezogen hinter diesen Mauern, still und autonom in großen Familieneinheiten.
Dem kontrollbesessenen Mao, der schon bald das Bedürfnis nach Privatsphäre als »individualistische«, antisoziale Einstellung geißelte, gefiel das überhaupt nicht. Während er darauf wartete, dass die Sowjets ihre architektonischen Gräuel vollendeten, ging er auf organisatorischer Ebene gegen die Hofhäuser vor und ließ »Sicherheitskomitees« einrichten, was nichts anderes bedeutete, als dass Nachbarn sich jetzt gegenseitig ausspionierten. Schwarz gekleidete Abordnungen von »Nachtmenschen« – hauptsächlich ehemalige Einbrecher – setzten ihre Fertigkeiten ein, um über Dächer zu klettern und zu lauschen, ob sich irgendwo »bourgeoise Aktivitäten« vernehmen ließen, wie zum Beispiel das Klappern von Mah-Jongg-Ziegeln auf einem Spielbrett, das Trällern eines im Käfig gehaltenen Singvogels, konterrevolutionäres Geflüster oder revisionistische Verschwörungen.
Auch an öffentlichen Orten wurde das urbane Leben beschnitten. Theater und Teehäuser wurden geschlossen, Straßenkünstler mit der Forderung nach Lizenzen schikaniert, Imbissverkäufer zum Beitritt in staatlich geführte Kollektive gezwungen. Selbst die Rikschafahrer, die einst die Straßen der Stadt verstopft hatten, wurden allmählich als »Überbleibsel aus dem Kaiserreich« und Symbole »menschlicher Sklaverei« verdrängt. Das geschah nicht plötzlich, aber der Prozess war unaufhaltsam und die Geschäftigkeit, die der Stadt einst ihren Charme verliehen hatte, verebbte und verkam zu einer angsterfüllten Stille, in der jede Handlung beobachtet und belauscht wurde.
Als er die Hotellobby verließ, merkte Nikolai sofort, dass sich ein Mann an seine Fersen heftete. China war arm an Ressourcen mit Ausnahme der menschlichen, deshalb konn te der Geheimdienst es sich ohne weiteres leisten, einen Mann vor dem Hotel abzustellen, dessen einzige Aufgabe darin bestand, »Guibert« im Auge zu behalten.
Gut zu wissen.
Nikolai wollte herausfinden, wie umfassend er überwacht wurde, und so spielte er »Katz und Maus«, wie Haverford dazu sagen würde. Nikolai betrachtete es natürlich etwas anders, und zwar nach den Regeln des Go-Spiels. Ein Grundprinzip dieses Spiels besagt, dass Bewegung Bewegung nach sich zieht. Bewegt man einen Stein, führt das meist dazu, dass der Gegner ebenfalls einen Stein bewegt. Und so war es auch bei der Spionage, ein für ihn völlig neues Terrain.
Ohne sich etwas anmerken zu lassen, überquerte er die Chang’an und ging in das alte Gesandtschaftsviertel, vorbei am Gebäude der alten russischen Botschaft, das nun die neue sowjetische Delegation bezogen hatte. Aus dem Augenwinkel suchte er die Vorderseite des Gebäudes ab, wo deutlich sichtbar Sicherheitskräfte in russischen Limousinen Wache hielten.
Er beschleunigte seinen Schritt, so als würde ihn das Gesandtschaftsviertel langweilen, und ging in westlicher Richtung zum Platz des Himmlischen Friedens.
Er lief um den riesigen Platz herum, auf dem wegen der Bauarbeiten ein einziges Chaos herrschte – sein Wachhund machte seinen Job gut, blieb an ihm dran, ohne ihm zu nahe zu kommen – und wandte sich dann in nördlicher Richtung den Ziegeldächern der Verbotenen Stadt
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