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Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)

Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)

Titel: Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacek Dehnel
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nicht doch nach Doktor Diaz schicken solle. Aber ich kenne das, und sie kennt es auch – sie hat damals, vor Jahren, gesehen, wie ich mit der gleichen Selbstvergessenheit den Koloss malte, der ja entschieden kleiner war; und jetzt so viele Wände, so viele Szenen und Themen. Wenn ich Hunger habe – ich spüre ihn kaum, erst das jähe Knurren des Magens erinnert mich daran, dass ich seit mehreren, manchmal über zehn Stunden nichts gegessen habe –, setze ich mich bisweilen ans Fenster im Obergeschoss und betrachte den Manzanares. Die Wäscherinnen, die Wagen, einen Bauern, der in einem Karren Orangen transportiert, die er an die Händlerinnen verkauft, die wechselnden Farben des Wassers, das mittags grau oder grünlich ist und am Abend wie eine goldene Ader im dunkelnden Erz der Felder und Häuser liegt. Und dann renne ich hinunter zu einem angefangenen Bild oder gehe auch einfach zur nächsten Wand und beginne zu malen, was ich gesehen habe: die Federbüsche der Bäume, vom Wind bewegt, einen Mann mit Sack, der den Weg entlanggeht. Aber ich weiß, das Ganze ist noch unklar. Das ist noch nicht das Eigentliche.

XXIX
    Das Heilige Offizium
    Es beginnt mit einem Punkt, mit einem grünlich-schwarzen Farbtropfen auf dem Pinsel – er hat die Wand berührt und wächst, ringsum verteilt, immer weiter. Eigentlich sollte er nur ein vom ersten Oktoberwind gezaustes Blatt werden, oder ein Schatten, geworfen vom Schirm einer Pinie, deren Wurzeln sich in den steilen Abhang des Berges krallen, aber er breitet sich aus und verwandelt sich in eine schwarze Augenhöhle, ergießt sich über die Hälfte eines fetten Gesichts, irrt umher, lässt dunkle Regenwürmer sprießen – den Schatten einer Nase und eines breiten Mundes, die gar nicht hierher passen: abscheulich, immer wieder abgeleckt von einer feuchten, beweglichen Zunge. Woher kommt denn, zwischen den Bäumen, die malerisch den Hang bewachsen, wieso drängt sich in die Schlucht zwischen den dunstigen, bläulich schimmernden Hügeln – diese Fresse? Und alles, was damit einhergeht: um das Maul, das aussieht wie ein angefaulter Kürbis, um das modrige Orange und das klebrige Schwarz – schmutzig graue Falten eines Kopftuchs, dunkle Kleider und der Umriss einer zweiten Figur; und schon wächst sich, was ein einziger, aufrührerischer Tropfen war, zu einer zweiten Gestalt aus, zu einem stämmigen Mönch mit Kapuze, der seinen fetten Bauch wie eine monströse Schwangerschaft präsentiert – man weiß nicht, was er da hat, vielleicht wollte er ein Kind gebären, wie Nero, dem man einen Frosch in den Magen gesetzt hat, und dieser Frosch wuchs und wuchs, bis die kaiserlichen Ärzte einen Kaiserschnitt machten und ihn ans Licht holten, darüber habe ich als Junge gelesen, in den Heiligenlegenden aus der Bibliothek der Piaristen … Und der daneben … Ich sehe, wie meine Hand auf der Palette ein grünliches Gelb mischt, das sich gleich in eine goldene Kette auf schwarzer Jacke verwandelt, und im nächsten Moment schaffen ein paar kräftige Striche weiter oben eine quadratische Halskrause, und der dünne Pinsel zeichnet die spitzigen Enden eines hochgezwirbelten Schnurrbarts und dünnen Bärtchens … Der daneben ist Chirurg, ein Arzt für das Züchten von Fröschen im Bauch von Mönchen und Kaisern, die ein Kind gebären wollen; hinter ihm ein böser Geist, der ihm etwas über einen alternden Dicken ins Ohr flüstert, der in einem Kittel vor der Wand steht, ohne jede Ahnung, warum er diese zwielichtige Gesellschaft in die idyllische Landschaft versetzt hat.

Diese drei – das Weib mit dem Tuch, der Mönch und der Arzt – schauen mich aufmerksam an. Das Heilige Offizium – man weiß nicht, woher es gekommen ist, aus der Farbe, aus der Tiefe der Wand, unter dem Putz hervor, unter der mit Röschen bedruckten Perkaltapete; und jetzt verurteilt es mich. Es verzieht das Gesicht, o ja, der Mund zur Grimasse verzerrt, die Augenbrauen hochgezogen, auf den Bauch klopft es sich, und in der Hand hält es die Rolle mit dem Urteil. Und hinter den dreien – unzählige, ich sehe, wie weitere herankommen, wie die nächsten Reihen den Weg entlangziehen: gebeugte alte Frauen, Ärzte und Richter in Perücken, Dicke, Krüppel, jeder von ihnen will kommen und mich verurteilen.
    »Du Tolpatsch, Trottel, Dreckspatz, Trantüte«, sagen sie, »du Faulpelz, Arschkriecher, Schmarotzer, du impotenter Lahmarsch, du Schwächling, Mimose, Amöbe«, sagen sie, »du verrückter Maler, der kein einziges Bild

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