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Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)

Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)

Titel: Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacek Dehnel
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Sekretär und setzte mich vor die aufgeklappte Platte.
    Ich warf die Briefe auf das fleckige Saffianleder, legte sie nebeneinander und ordnete sie; fast alle waren mit Datum versehen; sie waren schnell geschrieben, meist ohne Kommata, auch Punkte waren nur wenige gesetzt, als sollte jeder Satz der letzte sein, als müsste er alles enthalten: die Nachricht vom Tod eines Kindes, vom Kauf einer neuen Kutsche, darüber, wer wie viele Hasen und Rebhühner geschossen hatte, Informationen über Bestellungen und Besteller, Klagen über das Alter und die Bitte um einen Scheffel Maismehl, das Gerede darüber, was Bayeu von den Infanten über sein Bild gehört hatte, vor allem aber – Geld: Investitionen, Darlehen, Preise. Dreizehn Realen Zoll für einen Ledersack, vierzehn für ein Mieder, das meine Mutter für Zapaters Tante genäht hatte, elf für die Sendung, zehn Dublonen für ein Paar Maulesel, hundertundelf Realen Darlehen, neunundzwanzig für einen Scheffel Gerste.
    Aber nur ein Blinder konnte übersehen, was sich zwischen den Worten abspielte, sogar in den Worten selbst, ganz klar und durchsichtig, in vollem Licht, ohne Umschweife – selbst wenn ich nicht begriff, warum er sich als Fromme Jungfrau bezeichnete oder was der Kapaun bedeuten sollte (hatte die Krankheit etwa nicht nur seinem Gehör geschadet?), was sie in Farlete und Caramanchel gemacht und was irgendwelche Schäfchen damit zu tun hatten. Woher kamen die blauen Balkone und woher hatte ein Mensch, der nie Gedichte las, den »Zigeuner meines Herzens«? Aber ich bemerkte, dass sie ihre geheime, zärtliche Sprache hatten, damit kein Fremder, niemand außerhalb ihrer Welt, die aus dem Jagen, Hunden, deftigen Witzen, lautem Furzen, Speckfalten, rauhen Haaren, Begegnungen von Körperöffnungen und -gliedern bestand – damit kein Fremder, dem nach ihrem Tod diese nicht verbrannten Briefe in die Hände fallen mochten, verstehen konnte, worum es hier ging, was Kapaun, Farlete und die Studentenumhänge bedeuteten, woher die zärtlichen Worte kamen, die zu einem nur ihnen bekannten Abend, einem Scherz unter Betrunkenen, einem seltsamen Ereignis auf der Reise führten. Studentenumhänge? Hat es also schon damals angefangen? Wie alt war er da? Beim ersten Brief – nicht ganz dreißig, zehn Jahre vor meiner Geburt … Da war er schon aus Saragossa weg, war schon zurück aus Italien, hatte Mama geheiratet, und das zwischen den beiden, das Herumfummeln unter den Umhängen ging weiter. Und es ging über ein Vierteljahrhundert so. Als wäre sein ganzes Leben ein Kupferstich gewesen: Was wir schwarz auf weiß sahen, hatte seine spiegelbildliche Entsprechung, fast völlig schwarz, mit dünnen weißen Strichen.
    Und selbst wenn man den Worten nicht glauben wollte, waren da noch die Zeichnungen. Zwischen den Zeilen, am Rand, um die Unterschriften herum: eine Friseurschüssel, ein Jagdhund, ein Gewehr und ein Beutel, aus dem Hasenfüße herausschauen, ein Schlauch, Brot, Käse und Flaschen, auf einer Decke ausgebreitet, vor allem aber Körper: manchmal die von Männern und Frauen, aber häufiger nur die von Männern, in abstoßenden Posen, sich paarend wie Tiere. In manchen konnte ich ihn erkennen: den Backenbart, das üppige Haar mit dem Mittelscheitel, manchmal länger, manchmal kürzer; ich sah, wie er alterte, wie sein gezeichneter Körper immer schlaffer und breiter wurde, einem fetten alten Dachs, Wolf oder Bären immer ähnlicher. Auch den anderen erkannte ich, an der großen Adlernase und den buschigen Augenbrauen. Und seine Veränderungen.
    Ich erinnerte mich an das Gekritzel aus Bordeaux: einen hitzigen Stier mit Schmetterlingsflügeln. Hätte ich jemals gedacht, dass er sich da selbst gemalt hat?
    Es war mir so peinlich, als wäre ich ins Schlafzimmer getreten und hätte ihn gesehen, nackt, auf dem Körper eines anderen Mannes, verschwitzt, keuchend – und da, vor den Schubladen des offenen Sekretärs sitzend, die mit Grünspan überzogenen Knöpfe betrachtend, erinnerte ich mich, dass ich mir früher, vor langer Zeit, immer wieder folgende Szene vorgestellt hatte: wie ich mit dem Degen ins Schlafzimmer stürze, ihn wütend in den breiten Rücken stoße, der oben, an den Schultern, mit spärlichen Borsten bewachsen ist und unten glatt, als würde er zum Stich einladen. Jetzt spürte ich weder Wut noch Ekel, noch Mordlust, sondern nur Erstaunen, Müdigkeit und eine Art Scham.
    Wie damals, als mir Gumersinda sagte, seine letzten Worte seien gewesen: »Martín, mein

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