Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)
rechte obere Ecke in der Hand hielt, sah ich, dass am Rand, in tiefem Schatten, noch zwei Gestalten waren, zwei Männer. Der eine steht breitbeinig da, gespannt, nach hinten gebeugt, der zweite kniet vor ihm, der schwarze Fleck des Kopfes unter dem weißen – in der Dunkelheit graubraunen – Fleck des Hemdes.
Diese zwei Verrückten kannte ich, die hatte ich schon gesehen, als Zeichnungen an den Rändern der Briefe. Jetzt sagte der, der den Mund frei hatte, dem anderen: Wir sind wahnsinnig.
XXXVI
Die Lesenden
Lasst euch nicht täuschen von dem ehrwürdigen langen Bart und der Tonsur: wenn das ein Mönch ist, dann dient er einem schwarzen Orden, und das Blatt, von dem er abliest, ist nicht einem Graduale entnommen, sondern einem Buch der Zauberformeln und Geheimnisse.
Keiner Messe wurde je so inbrünstig gelauscht wie diesen Furcht und Ekel erregenden Worten, die so gierig verschlungen werden: die halb geschlossenen Augen, die unter dem Schnurrbart zitternden Lippen, die heißen, pulsierenden Ohren, der Schauer unter dem verschwitzten Leinen der Hemden. Es ist der innere Kreis derer, die mit ihrem Blut den Teufelspakt besiegelten und eine Einweihung in die Mysterien erfuhren – ihre breiten Schultern verbergen das Papier und die darauf geschriebenen Zeichen vor der Menge.
Die weiter entfernt Stehenden sehen nur die Wirkung: die langen, gebogenen Hörner, die aus dem Schädel des Magiers in dem weißen Gewand wachsen, Offenbarung der Macht, sichtbares Zeichen, dass unter der Oberfläche abscheuliche Kräfte lauern, zu denen nur wenige Zugang haben.
Diejenigen, die sich die Macht teilen, werden zugleich schwach, denn die gekrümmten Hörner verraten sie von weitem als Wissende. Doch der Maler kommt ihnen zu Hilfe, denn er will – selbst wenn er nicht zu der geheimen Bruderschaft gehört – ihr Geheimnis nicht enthüllen. Im Handumdrehen übermalt er die großen Hörner mit Weiß, dann mit braunem Schatten, und dort, wo sie aus dem breiten Schädel wachsen, fügt er den Kopf eines bärtigen Mannes hinzu, der in stummem Gebet die Augen gen Himmel wendet. Wer wird das schon bemerken?
XXXVII
Javier spricht
Ich durchsuchte nicht nur den ganzen Sekretär, sondern auch noch einige andere Möbel, den Schrank im alten Teil des Hauses, den Dachboden. Und ich durchwühlte alles – schließlich hatte er vor seiner Flucht nach Bordeaux hier gewohnt und nicht in der Stadt. Doch die andere Hälfte der Korrespondenz konnte ich nicht finden; ich schickte Felipe nach Madrid, und er kam gegen Morgen mit drei Körben völlig überflüssiger Dokumente zurück: alte Rechnungen von Händlern, die Farbe, Leinwand, Pinsel und Leim verkauften, Mahnungen aus der königlichen Kanzlei, Dokumente der Teppichfabrik, Einladungen, Absagen, Bestätigungen, Listen von Grundstückspreisen. Sogar einen Stammbaum fand ich, den der Dachs bei einem gelehrten Historiker bestellt hatte und der sich als enttäuschend kurz erwies. Aber keine einzige Seite irgendeiner Schweinerei.
Die mühsamen Nächte, die ich an den Bildern verbrachte, bewirkten, dass ich, wenn mich einmal etwas packte, manchmal überhaupt nicht mehr schlafen gehen musste, sondern weiterarbeiten konnte, bis der Hunger, der mich antrieb, gestillt war. Es tagte schon, als ich beschloss, Vaters Sekretär genauer unter die Lupe zu nehmen als vorher. Ich holte alle Papiere und Andenken heraus, alte Blechschachteln mit Löschsand für Tinte, Flaschenkorken, Schnurstücke, scharf gespitzte Federn; dann ging es weiter: kleine Schubladen, große Schubladen, alles, alles, bis nur noch das Skelett blieb, das beredsam das Versteck und den Öffnungsmechanismus verriet.
Und genau dort waren sie.
Obenauf lag ein mehrmals gefaltetes Blatt Papier, das offensichtlich später hineingeworfen worden war; ich nahm es heraus und legte es beiseite; darunter befand sich ein dicker Stapel leicht vergilbter, an den Rändern ausgefranster Briefe, mit einem Stückchen Schnur zusammengebunden, und ganz unten eine schwarze Schleife.
Ich löste die Schnur und begann zu lesen. Ich nahm einige Blätter und suchte ihre Entsprechungen aus dem Stößchen der anderen Briefe heraus; sie waren wie lange Reihen von Knöpfen und Löchern, wie die ineinandergreifenden Kerben und Zähne der Räder eines Mechanismus. Ich sah auf die Uhr – ein paar Stunden hatte ich noch, mit Zapaters Neffen war ich am Mittag verabredet.
Erst jetzt nahm dieses Leben, das Leben meines Vaters, zumindest der Teil, zu dem wir keinen Zugang
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