Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
sich fernhielt. Sie lernte die Stimmen kennen. Die Stimme, die klang, wie wenn man Alteisenteile in einer Wollsocke hinter sich herzog, gehörte Ruth Noser. In Nora Beglingers Stimme war meist ein Lachen mitzuhören, manchmal amüsiert, ab und zu auch spöttisch. Paul Meiers Stimme bebte ein bisschen, als wäre er tief ergriffen von dem, was er sagte. Aber sie bebte auch, wenn er über die Anzahl Parkplätze in der Innenstadt oder den Steuerfuß sprach. Andreas Spielmanns Tonfall war der eines Märchenerzählers, man hatte ständig das Gefühl, dass er gleich ganz wundersame, erstaunliche Dinge sagen würde, was aber leider nie der Fall war. Renate Kunz’ Stimme war tief und erotisch, aber was sie sagte, war meist unendlich langweilig und freudlos formuliert. Simon Hefti klang frisch und spontan, bei Lina hieß er Simon, the young dog Hefti. Vermutlich würde er es ihr nicht einmal übel nehmen, wenn er es wüsste.
Lina war am Protokoll der AG KVK vom Montag. Damals war Angela Legler, die schnell und abgehackt sprach, so als würfe sie den Zuhörern kleine hölzerne Würfel zu, noch am Leben gewesen. Ihre Stimme war noch da, wie wenn nichts wäre. Es war Lina immer unheimlich, wenn sie in der Zeitung ein Foto einer Person sah, die umgekommen war. In dem Moment, als das Foto gemacht worden war, war sie lebendig gewesen und es war ihr kaum in den Sinn gekommen, dass genau unter diesem Foto einmal die Bildlegende stehen würde: Das Opfer. Auch Angela Legler hatte sicher keinen Gedanken an die Möglichkeit verschwendet, dass von ihr nur dieses Stück Ton übrig bleiben würde. Lina schrieb sich zäh durch diese Sitzung hindurch. Sie war gespannt, ob sie irgendetwas zu hören bekommen würde, was weiterhalf, eine geflüsterte Bemerkung, die Aufschluss geben würde über diese ominösen 7000 Franken. Sie hatte schon dieses und jenes vernommen, leise, giftige Kommentare oder frivole Witze, von denen sich die Sprechenden nicht bewusst gewesen waren, dass sie aufgezeichnet wurden. Heute wurde sie enttäuscht. Kein Satz wie: So, jetzt schiebe ich der Angie die 7000 rüber, damit sie so abstimmt, wie ich es möchte. Lina musste über sich selbst grinsen.
Sie war allein im Büro. Carlo hatte frei, Raffaela war erkältet und musste erst abklären lassen, ob sie die Schweinegrippe hatte, bevor sie wieder zur Arbeit kommen durfte. Auch Mario war nicht gekommen, obwohl er eigentlich hätte hier sein müssen. Abgemeldet hatte er sich nicht. Jenny hatte sich schon nach ihm erkundigt. Lina machte sich etwas Sorgen. Mario war doch so zuverlässig. Der Tod von Angela Legler hatte ihn richtig mitgenommen. Oder ob er sonst Probleme hatte? In der letzten Zeit war er unausgeglichen gewesen. Manchmal fröhlich und witzig, fast übermütig, manchmal aber auch nachdenklich und schweigsam. Vielleicht war er wirklich verliebt. Lina griff zum Telefon. Bei seinem Festnetzanschluss meldete sich die Combox und auch an das Handy ging er nicht. Ob ihm etwas passiert war? Ach was, er war ein erwachsener Mann. Lina überlegte hin und her. Plötzlich kam ihr in den Sinn, dass sie ja noch einen Schlüssel zu seiner Wohnung hatte. Sie hatte seinen Zwerghasen gefüttert und die Pflanzen gegossen, als er kürzlich ein paar Tage mit seiner Tochter weggefahren war. Sie beschloss, über Mittag bei ihm vorbeizuschauen.
»Nein«, flüsterte Lina, »das ist nicht möglich, das kann nicht sein.« Mario Bianchera lag im Flur seiner Wohnung. Er lag auf dem Rücken, sein Hemd war voll von getrocknetem Blut, am Boden war Blut, seine Hände waren blutig. Er war tot. Lina brauchte lange Sekunden, um die Szene in sich aufzunehmen, um zu begreifen, dass sie Realität war. Einen Moment lang erfasste sie Panik, sie wollte nur noch weg. War der Mörder noch hier? Aber das Blut war bräunlich, getrocknet, Mario musste schon seit Stunden tot sein. Sie schloss die noch halb offen stehende Wohnungstür.
Sie hatte geklingelt, eine Minute gewartet, nochmals geklingelt. Dann hatte sie die Türfalle gedrückt, die Tür war unverschlossen. »Mario«, hatte sie gerufen, »Mario?« Es war ihr peinlich gewesen, einfach einzudringen. Dann hatte sie die Tür halb geöffnet und war eingetreten. Da lag er.
Lina lehnte sich gegen die Tür. Sie musste etwas tun. Ein unvernünftiger Wunsch, Hannes anzurufen, erfasste sie. Oder Valerie. Sie riss sich zusammen und wählte den Polizeinotruf. Setzte sich auf den Boden, einen Meter von Mario entfernt. Betrachtete sein Gesicht. Es war ganz
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