Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
rüsten und Kräuter zu hacken. Er setzte sich mit der Pizza vor den Fernseher. In einem Magazin kam ein Beitrag über Prosopagnosie, den wollte er unbedingt sehen. Dass es Menschen gab, die offen zu dieser Schwäche standen … unglaublich. Ein Mann erzählte, er werde oft für arrogant gehalten, wenn er jemanden nicht erkenne. Kennen wir doch, dachte Streiff. Und wenn schon. Ein anderer berichtete, als er seine kleine Tochter von der Krippe abholte, habe er sie nicht erkannt und warten müssen, bis alle anderen Eltern ihre Kinder abgeholt hätten. Er nahm dann einfach die Kleine, die übriggeblieben war. Seltsam, dachte Streiff, man hätte doch annehmen können, das Mädchen wäre ihm entgegengelaufen. Oder er, Streiff, hätte sich selbstverständlich ihre Kleider gemerkt, er hätte sie an der Stimme erkannt oder an den Haaren. Da gab es doch Möglichkeiten. Er hatte kein Verständnis für diesen Vater, der sich in seiner Unbeholfenheit eingerichtet hatte, ohne Strategien zu entwickeln, sie zu kompensieren. Vielleicht war er ungerecht. Es musste schon sehr kompliziert sein, wenn man überhaupt keine Gesichter erkannte. Vielleicht war es dann wirklich das Beste, es zuzugeben. Ihm selbst passierte es nur ab und zu. Es gab Menschen, die er sich über lange Jahre hinweg nicht merken konnte, die in seinem Hirn nie eine Spur hinterließen. Mit anderen hatte er überhaupt keine Mühe. Er hatte nie herausgefunden, woran es lag. Es waren nicht unbedingt unscheinbare Gesichter, die er immer wieder vergaß, es hatte auch nichts mit Sympathie oder Abneigung zu tun. Sein Hirn schaltete und waltete in dieser Sache nach Gesetzmäßigkeiten, die ihm verborgen blieben.
Er erinnerte sich wieder einmal an die peinlichste Szene, die ihm seine Schwäche eingebrockt hatte. Es war schon viele Jahre her, aber er konnte bis heute nicht darüber lachen. An einem Fest, wo er die meisten Gäste nicht kannte, war er auf eine attraktive Frau zugegangen und hatte sich ihr vorgestellt. Als die Frau spöttisch geantwortet hatte, »ich weiß«, war ihm aufgegangen, dass sie eine Mitstudentin war. Hätte das Fest nicht auf einem Schiff stattgefunden, das eben ablegte, hätte er es unverzüglich verlassen.
Freitag
»Ich will nicht lang werden«, rief Heinrich Leuzinger, »aber …« Lina drehte den Ton etwas leiser und schrieb: »Ich will nicht lange sprechen.« Leuzinger war es weder gegeben, sich kurz zu halten, noch leise zu sprechen. Die Stimme, die aus seinem massigen Körper kam, war von Natur aus laut und wurde, wenn er sich ereiferte, was nach spätestens zwei Minuten der Fall war, noch lauter. Weniger als fünf Minuten sprach er nie. Er entwickelte seine Gedanken unbekümmert und assoziativ beim Reden, kam vom Hundertsten ins Tausendste. Irgendwann wurde es ihm bewusst und dann setzte er zu einer Zusammenfassung an, die ihm aber unweigerlich wieder zu einer ausführlichen Rede geriet. Ganz zum Schluss wiederholte er die wichtigsten Punkte, wobei ihm aber meist nochmals eine neue Idee kam, die es ebenfalls einzufügen galt. Sein Hochdeutsch war stark dialektgefärbt, aber wenigstens war seine Stimme angenehm, eine tiefe, tragende Stimme, die Lina gern hörte. Heinrich, the voice Leuzinger, nannte sie ihn bei sich. Sie bedauerte es, dass sie sich mit Carlo nicht darüber austauschen konnte. Der hatte keinen Sinn für derlei. All diese Stimmen, die den ganzen Tag durch den Kopfhörer in sie hineinströmten. Dunkle, helle, kratzige, weiche Stimmen. Ein nicht endender Redefluss in wechselndem Rhythmus, einmal schnell, eifrig, dann wieder langsam, zögerlich, abgehackt, zackig, flüssig, jeder Sprecher hatte seine eigene Melodie, seinen eigenen Sprachfluss, seine Stimme. Abertausende von Wörtern strömten in Linas Körper, verließen ihn durch ihre Fingerspitzen wieder und erschienen, vom Akustischen ins Visuelle transformiert, auf dem Computerbildschirm. Anfangs hatte sie keine Abgrenzung gefunden gegen diese Invasion, ungehindert war alles in sie eingedrungen und sie stellte sich vor, dass sich Satzfetzen in ihrem Körper verteilten, in ihren Blut- und Nervenbahnen mitschwammen, in einem Organ hängen blieben, sich in ihre Laute auflösten und neu zusammensetzten. Was ging da in ihr vor? Ich muss Ordnung schaffen, hatte Lina beschlossen, es geht nicht, dass ich mich überschwemmen lasse von fremden Gedankengängen, von diesem Heer von einmarschierenden Wortkaskaden. Sie machte den Redestrom zu ihrem Stoff, den sie formte und dadurch von
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