Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
an die Brust. Während er hastig trank, die Hände zu winzigen Fäustchen geballt, sah sie sich in der Küche um. Eigentlich war es viel angenehmer so. Ob sie Linus die Wahrheit sagen sollte? Er sah sie jeweils abends so besorgt an, wenn er nach Hause kam. Bestimmt würde er sich freuen, wenn er den Eindruck hatte, dass ihre Lebensgeister zurückkehrten.
Streiff ging mit schnellen Schritten den Döltschiweg hinab. Elmer hatte recht. Es brachte ihm nichts, wieder und wieder mit den gleichen Leuten zu reden. Denn er bekam meistens schon beim ersten Mal aus ihnen heraus, was er wissen wollte. Im Fragenstellen, im Beobachten von Reaktionen war er gut. Er musste bei seiner Schwäche ansetzen. Bei seiner verfluchten Prosopagnosie. Nur war das leichter gesagt als getan. Hatte er jemanden gesehen und nicht wiedererkannt? War es das, was sein Unterbewusstsein ihm hartnäckig mitzuteilen versuchte? Dann sollte es sich doch, bitteschön, etwas deutlicher äußern. Mit dunklen Andeutungen war ihm jetzt nicht geholfen. Es sollte jetzt bitte eine Art SMS aus seinem Innern kommen, unmissverständlich wie jenes von Valerie, am besten mit einem Namen, einem Ort, einer Uhrzeit, mit verbindlichen Angaben jedenfalls.
Zu Hause würde er Valerie anrufen. Und etwas sehr Verbindliches mit ihr verabreden. Ein Geschenk wollte er noch besorgen. Was ihr wohl gefallen könnte? Nichts Übertriebenes, nicht dass sie gleich kopfscheu wurde. Er lenkte seine Schritte zur Haltestelle des Zweiunddreißigers, der ihn in die Innenstadt bringen würde.
Raffaela Zweifel hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Sie trödelte im Büro herum, stapelte herumliegendes Papier zu sinnlosen kleinen Bergen, spielte am Computer Solitär und checkte nochmals ihre Mails. Der Zugang zu Facebook war im Büro leider gesperrt. So konnte sie auch nicht nachsehen, ob sie eine Nachricht hatte von dem interessanten Typen aus Berlin, den sie online kennengelernt hatte. Aber Berlin war weit weg, es würde ohnehin nichts daraus werden. Sie war, fand sie, in letzter Zeit etwas zu sehr Single. Wurde Zeit, dass wieder einmal etwas lief. Und doch hatte sie meist keine rechte Lust auszugehen. Mario war tot. Mario hatte ihr eigentlich recht gut gefallen. Sie hatte ab und zu versucht, mit ihm zu flirten, aber er war nicht darauf eingegangen, was ihre Eitelkeit verletzt hatte. Jetzt hatte sie das Gerücht gehört, er habe mit der Legler was gehabt. Das war doch wohl nicht möglich. Mit dieser hässlichen Person? Wo er sie, Raffaela, hätte haben können? Mario, fantasierte sie, das hätte vielleicht eine richtige Beziehung werden können, mehr als eine kleine Affäre. Er hatte nicht besonders gut ausgesehen, aber er war lieb, und er hatte gut verdient. Es hatte jetzt keinen Zweck mehr, darüber nachzugrübeln. Mario war tot. Aber vielleicht sollte sie sich einen Mann wie Mario suchen? Bloß, wo fand man den?
Carlo neben ihr fuhr seinen Computer herunter. Es schien ihm ähnlich zu gehen wie ihr. Hatte er auch keine Lust, nach Hause zu gehen? Raffaela wusste nicht viel von ihm. Er war verheiratet, hatte zwei Söhne. Falls er zu Hause auch so bärbeißig war wie häufig im Büro, wartete seine Familie vermutlich nicht allzu ungeduldig auf ihn. Und auf sie wartete gar niemand.
»Carlo, hast du Lust, noch auf ein Bier wo hinzugehen?«, versuchte sie es.
Carlo schien erstaunt. Er zog den Reißverschluss seines kleinen Rucksacks zu und meinte dann nach kurzem Zögern: »Ja, warum eigentlich nicht.«
Sie gingen in die Commi-Halle und setzten sich an die Bar. »Ich bin irgendwie traurig, dass Mario tot ist«, begann Raffaela. »Macht dir das nichts aus? Du wirkst immer so cool.«
»Nein, ich finde es natürlich auch eine verdammt unangenehme Sache«, sagte Carlo. Das Gespräch war ihm unbehaglich. Wollte die Kleine ihm jetzt ihr Herz ausschütten? Dann hätte er ihren Vorschlag gescheiter nicht angenommen. Aber er hatte wirklich keine Lust heimzugehen und einmal mehr untätig in seiner Mansarde herumzusitzen.
»Meinst du, sie verdächtigen uns?«, wollte Raffaela wissen.
»Verdächtigen? Uns? Weshalb denn?«
»Ja, dich und mich. Weil wir uns doch so schlecht mit der Legler verstanden haben.«
»Du meinst, die denken, du oder ich hätten die Legler umgebracht? Unsinn. Die Polizei verfolgt ganz andere Fährten.«
»Welche denn? Weißt du etwas?«, fragte Raffaela eifrig.
»Nein, es kümmert mich auch nicht.«
»Wie kannst du so unbeteiligt bleiben? Ich muss immer daran
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