Saubande: Ein Schweinekrimi (German Edition)
gewöhnliches Hausschwein schon außerordentlich viel Glück haben, um nicht in so einem Totenhaus zu enden. Und dann wurde man zerlegt, auseinandergeschnitten und in irgendwelche Kessel und Töpfe geworfen … Darüber kursierten unter den Schweinen der Welt die schauderhaftesten Geschichten. Nur für die wilden Schwarzen, fiel Kim ein, galt das offenbar nicht. Jedenfalls hatte sie von Lunke noch kein Wort darüber gehört.
Cecile schien zu spüren, dass sie eine Frage aufgebracht hatte, die man für gewöhnlich nicht stellte, aber an diesem besonderen Abend war irgendwie alles anders. Die Kleine kauerte sich zusammen und legte ihren Kopf unter ihre Pfoten.
»Wenn man tot ist, geht die Seele auf Wanderschaft«, sprach Doktor Pik leise, aber mit sonorer Stimme, so dass er klar und deutlich zu verstehen war. »Sie erhebt sich und wartet darauf, dass der Wind sie mitnimmt.«
»Was ist die Seele?«, quiekte Cecile voller Zweifel.
»Die Seele«, antwortete Doktor Pik gleichmütig, »ist etwas Reines, wunderbar Leichtes, das jedes Wesen in sich trägt.«
»So leicht wie eine Feder?«, fragte Cecile eifrig, weil sie meinte, etwas verstanden zu haben.
»Ja«, erwiderte Doktor Pik, »jeder hat so etwas wie eine reine, weiße Feder in sich, die er, während er lebt, hüten und schützen muss, und sie wird nach dem Tod davongetragen, bis sie sich mit einem neugeborenen Wesen vereinigt.« Er zögerte einen Moment und lächelte. »Wenn man ganz viel Glück hat, wird die Seele hoch hinauf in den Himmel geweht. Dann wird man zu einem himmlischen Wesen.«
»Sind weiße Wolken dann also himmlische Wesen?«, rief Cecile beflissen.
»Kann schon sein«, grunzte Doktor Pik, und nun war ihm anzuhören, dass er nicht mehr weitersprechen wollte.
Eine Seele als weiße Feder? Wie ist Doktor Pik darauf gekommen?, dachte Kim. Lernte man so etwas beim Wanderzirkus?
Einen Moment lang versuchte sie sich ihre Mutter als eine dicke weiße Feder vorzustellen, dann legte sie sich auf die Seite. Es war spät geworden, auch von den anderen war nur noch ein leises Schnaufen zu hören. Irgendwie wirkte jeder von ihnen erleichtert. Die Anspannung im Stall hatte sich gelöst.
»Ich gestehe«, flüsterte Che unvermittelt in die Stille hinein, »ich bin oft verzweifelt. Beim nächsten Mal, wenn meine Seele wieder auf Wanderschaft geht, möchte ich kein Schwein mehr sein, sondern … Ich wäre gerne ein Schwan, ein großer, weißer Schwan, den jeder bewundert, wenn er sich in die Lüfte erhebt, mit mächtigen weißen Flügeln.«
Che atmete schwer, und fast klang es, als würde er anfangen zu schluchzen.
»Toll!«, quiekte Cecile. »Das stelle ich mir toll vor, ein Schwan zu sein. Ich habe schon mal einen Schwan gesehen, der über das Haus geflogen ist und krakrakra gemacht hat.«
Vermutlich irrte Cecile sich und hielt irgendeine Krähe für einen Schwan, aber niemand klärte sie über ihren Irrtum auf. Draußen hörte man ein Auto auf den Hof fahren. Eine Tür schlug zu, und eine Stimme erklang, die Kim bekannt vorkam. Ja, das war Michelfelder – der Mann, der neulich unter Dörthes Fenster gesessen und ihr Musik vorgespielt hatte. Kim unterdrückte ihre Neugier und lief nicht hinaus. Stattdessen sagte sie leise, bevor sie einschlief: »Der Fall ist übrigens gelöst. Die Polizisten haben den falschen Munk verhaftet, er soll seinen Bruder und Haderer umgebracht haben.«
Niemand sagte etwas, aber sie hatte schon vorher gewusst, dass es die anderen nicht interessieren würde.
20
Sie war ein echtes Rennschwein und lief durch eine Manege, immer im Kreis. Sägemehl wirbelte auf, Musik spielte. Sie war die Erste, Che, Brunst und Doktor Pik hatte sie weit hinter sich gelassen, und die kleine Cecile saß auf der roten Umrandung und feuerte sie an – sie war Kim, die Siegerin.
Ein heftiger Ruck ließ sie innehalten, und dann stach ihr grelles Licht in die Augen. Noch ein Ruck, der sie schmerzhaft aufschreien ließ. Wie kam plötzlich dieses Licht in die Manege? Und überhaupt, wie war sie in die Manege gelangt? Sie war noch nie in einem Zirkus gewesen, hatte nur gelegentlich nachts den Geschichten von Doktor Pik gelauscht, wie er unter lautem Beifall in ein großes Zelt gelaufen war und mit den Hufen Luftballons gezählt hatte, und dann sein Kartentrick … aber diesen Trick hatte sie immer noch nicht verstanden, wenn sie ehrlich war.
Mit dem nächsten, noch heftigeren Ruck wurde sie auf die Hufe gezerrt, das grelle Licht glitt über sie
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