Saufit: Von einem, der auszog, nie wieder krank zu werden (German Edition)
lauter, munterer Stimme, weil Jane sagt, dass Großvater dann mehr mitbekommt.
Er lacht nicht, aber er nickt, wenn auch ganz langsam. Seine buschigen Augenbrauen zucken leicht.
Das Krankenhaushemd ist so kurz, dass ich seine Beine sehen kann. Sie haben sich rötlichgelb verfärbt, sind von bläulichen Äderchen durchzogen und sehen wächsern aus. Ich hasse diese Krankenhaushemden.
Es klopft, und meine Schwester Beryl betritt Zimmer 134. Sie wird ein bisschen blass, als sie Großvater so daliegen sieht. Sein Körper wirkt wie geschrumpft. »Hallo Opa«, sagt sie mit zitternder Stimme. »Wie geht’s dir?« Dann bittet sie uns, sie für einen Moment zu entschuldigen, und geht auf die Toilette. Einige Minuten später kommt sie mit roten Augen zurück.
»Draußen ist das Laub gerade so schön bunt«, sagt Jane. »Es wird Zeit, dass du hier rauskommst, damit du es dir anschauen kannst. Du hättest bestimmt deine Freude dran.«
Großvater sagt nichts. Er atmet nur schwer. Wird er hier wirklich noch mal rauskommen? Unwillkürlich muss ich an die schwierige Balance zwischen exaltiertem Optimismus und Realismus denken.
Ich hole meinen Laptop aus der Tasche und zeige Großvater ein paar Videos von unserer Familie, darunter auch eins von Beryls Tochter, wie sie in einem an Der Wind in den Weiden angelehnten Musical eine Maus spielt. Sie sieht so entschlossen aus, wie sie mit ihrem roten Hütchen und ihrem roten Mantel dasteht und singend in die Ferne blickt.
Ein Arzt kommt ins Zimmer, um sich den Ausschlag anzuschauen, der sich auf Großvaters Arm rund um die Infusionskanüle gebildet hat.
Und wieder klopft es an der Tür. Diesmal ist es Valerie, seine langjährige Sekretärin. »Tag, Chef«, sagt sie. Sie ist mit ihrem Freund gekommen und fragt uns spontan, ob sie für Großvater ein Gebet sprechen darf. Dann umfasst sie seine Hände und bittet Gott, diesen Mann gesunden zu lassen. Begreift Großvater, was da gerade vor sich geht? Er war sein Leben lang Agnostiker. Was hält er wohl von diesem Gebet?
Beim Abschied lege ich so viel Fröhlichkeit wie möglich in meine Stimme und sage: »Ich hab dich lieb, Opa. Ich komm dich ganz bald wieder besuchen!« Er versucht, etwas zu erwidern, doch aus seinem Mund kommt nur ein Stöhnen.
Zwei Tage später starb er. Im Krankenhaus kam es zu irgendeiner Verzögerung, sodass er noch volle sechs Stunden lang tot auf dem Krankenbett lag, bevor er endlich abgeholt wurde. Eine nachträgliche Ironie des Schicksals bei einem Mann, der zeitlebens nicht stillsitzen konnte.
Marti sagte mir: »Er sah so ruhig und friedlich aus, als er so dalag. Ich hatte Mühe zu begreifen, dass er nicht einfach nur ein Nickerchen machte.«
Wir beerdigten Großvater an einem sonnigen, kalten Tag auf einem Friedhof in Westchester. Wir waren 15 Leute am Grab, nur der engste Familienkreis. Die öffentliche Gedenkfeier fand erst später statt.
Auf dem rosafarbenen Grabstein lag ein kleiner schwarzer Verstärker. Einer nach dem anderen traten wir vor, nahmen das Mikrofon und hielten eine kleine Grabrede, während der Wind das rote Laub in den Bäumen hinter uns rascheln ließ.
Wir sprachen von seinem Einsatz für die Bürgerrechte. Von der Liebe, die er für seine Familie empfand, und von seiner Begeisterung für Apfelwein und Alice im Wunderland . Von seinen Reisen nach Ghana, um den Weg des Landes in die Unabhängigkeit zu unterstützen. Und von Lyndon B. Johnson, wie er ihn einmal für ein Pressefoto am Revers packte.
Marti las einen Brief von ihm vor, der uns daran erinnerte, wie begeistert Großvater zeitlebens mit Sprache spielte: »Ich schreibe dir diesen Brief ohne Anrede, weil du sowieso weißt, wie du heißt. Außerdem sehe ich gar nicht ein, ›Liebe Marti‹ zu schreiben, wo du doch bekanntlich alles andere bist als lieb.«
Nach den Grabreden ließen vier Friedhofangestellte den Sarg an breiten Bändern in die ausgehobene Grube gleiten.
Anschließend besuchten fast alle Trauergäste das in der Nähe gelegene Grab meiner Tante. Doch ein paar von uns blieben zurück, darunter auch meine Cousine Rachel und ich. Rachel wohnt in Baltimore und studiert Psychologie.
Wortlos ergriffen wir die zwei Schaufeln, die noch im Erdaushub steckten. Erst warf Rachel eine Schaufel voll Erde in die Grube. Mit einem dumpfen Geräusch prallte sie auf den Sargdeckel.
Dann ging ich in die Knie und warf ebenfalls eine Schaufelvoll in die Grube. Derselbe dumpfe Aufprall. Das Geräusch von Erdbröckchen, wie sie auf
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