Saugfest
wenn einem der Kopf abgebissen wird? Angenommen, der Wolf reißt mir erst einen Teil der Backe raus, kann man das dann wieder richten, sollte er es sich doch noch anders überlegen?
Aber der Wolf scheint sich gar nicht für meinen Kopf zu interessieren. Er hechelt mir ins Ohr, und ich bemerke, dass er am ganzen Körper zittert. Im nächsten Moment springt er mich an, und wir fallen beide nach hinten über.
Da ich vorher noch nie mit einem leicht übergewichtigen Tier, das als Erstes seiner Art seit hundertfünfzig Jahren in dieser Gegend aufgetaucht ist und zudem noch zu der Spezies Fleischfresser gehört, auf dem Beifahrersitz über eine Autobahn gefahren bin, verhalte ich mich wie eine Geisel neben einem Terroristen. Einerseits versuche ich, mich so normal wie möglich zu geben, andererseits suche ich die Freundschaft. Nicht, dass ich mich trauen würde, den Wolf zu streicheln, ich brauche die rechte Hand zum Schalten, aber ich sage solche hirnrissigen Sachen wie: »Der Sommer ist doch die schönste Jahreszeit« oder »Schau mal, Kleiner, das da sind Leitplanken.« Ich frage dann auch noch: »Soll ich das Radio lieber ausschalten?«, weil der Moderator die Bevölkerung schon wieder vor meinem Sitznachbarn warnt. Nicht, dass er mir auf noch mehr dumme Gedanken kommt. Mir reicht es schon, dass er ungefragt in mein Auto gehüpft ist, nachdem ich ihn abschütteln konnte. Und nichts und niemand haben ihn dazu veranlassen können, es wieder zu verlassen. Also, was hätte ich tun sollen? Ich konnte ja nicht ewig auf dieser Autobahn stehen bleiben.
Ich habe wirklich nichts dagegen zu sterben, aber gefressen werden will ich nicht. Das wird mir von Kilometer zu Kilometer klarer. Warum habe ich es zugelassen, dass der Wolf in mein Auto springt? Wieso bin ich nicht geistesgegenwärtig in den Wagen gesprungen, um das Fenster hochzukurbeln und dann schnell das
Gaspedal durchzutreten? Weil der Wolf mir leidgetan hat. Er hat irgendwie so eine Angst ausgestrahlt, als er mich angesprungen hat, dass ich es nicht über mich gebracht habe, ihn einfach auf der Autobahn stehenzulassen. Es ist leider so. Es ist so. Ich musste erst das Gefühl »leidtun« kapieren, weil mir ja sonst überhaupt nichts leidtut, aber nachdem ich es kapiert hatte, konnte ich es auch zuordnen. So. Der Wolf tut mir also leid. Er sitzt neben mir, zittert immer noch und versaut den Sitz mit seinem nassen Fell und seinen dreckigen Pfoten. Na ja, besser als Kotze.
»Wo wohnst du denn?«, frage ich, nur um etwas zu sagen, und selbstverständlich bekomme ich keine Antwort, kann aber dafür nun ein leichtes Zähneklappern hören.
»Du bist ja ein ganz schönes Weichei«, stelle ich fest. »Dass dir dein nasses Fell so viel ausmacht. Wahrscheinlich hast du auch Angst im Dunkeln, hm?«
Nun fängt er an, leise zu jaulen.
»O Mann«, sage ich. »Heul doch!«
Eine Sekunde später platzt fast mein Trommelfell. Der Wolf hat den Kopf zurückgelegt und heult, was das Zeug hält. Sein Gebrüll übertönt sogar die Motorgeräusche. Ich traue mich nicht, ihm eins auf die Nuss zu geben, weil ich meine Hand gern behalten möchte, also lasse ich ihn heulen, bekomme Kopfschmerzen, und meine Zahnplomben machen sich bemerkbar. Es ist ein schlimmes Ziehen, das bis ins Mark geht, und der Wolf heult immer weiter. Fast kommt es mir so vor, als würde er langaufgestauten Frust abbauen, wo er nun endlich weiß, wie das geht.
Als ich zu Hause ankomme, ist es leider noch nicht dunkel und gut möglich, dass Nachbarn mich sehen und dumme Fragen wegen meines neuen Haustiers stellen könnten. Da ich aber noch nicht mal weiß, wer meine Nachbarn sind, weil ich diese Leute ignoriere, ist das auch egal.
Ich finde einen Parkplatz, steige aus, gehe ums Auto herum und öffne die Beifahrertür. Der Wolf heult immer noch. Es ist nicht
zum Aushalten. Irgendwann müssten doch auch die kräftigsten Stimmbänder mal eine Pause brauchen.
»Komm jetzt raus da«, knurre ich ihn an, und sofort fängt er wieder an zu zittern. Dann legt er sich auf den Rücken und streckt alle vier Läufe von sich. Das ist kein Wolf, das ist ein … keine Ahnung, aber jedenfalls kein Raubtier. Weil ich nicht stundenlang vor dem Auto stehen bleiben möchte, schnappe ich ihn am Nackenfell und ziehe ihn auf die Straße. Er jault immer noch. »Du bist vielleicht ein Heuler«, sage ich, und er sagt gar nichts, sondern presst sich an meine Beine. Ich habe den Eindruck, dass er am liebsten in mich hineinkriechen
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