Saugfest
der Heuler sterben. So lange kann doch kein Wolf am Stück heulen. Wenn ich bloß wüsste, wie ich ihn beruhigen könnte. Wenn ich weiterhin bloß wüsste, was ich mit dem Heuler machen soll.
Herr Richter trippelt nach gegenüber in seine Wohnung, kommt
zurück und drückt mir ein Buch in die Hand, obwohl ich das gar nicht verlangt habe.
»Das wird Ihnen gefallen«, sagt er freundlich und wackelt schon wieder mit dem Kopf. »Das sind Märchen. Die beruhigen. So. Ich gehe dann jetzt mal einkaufen. Soll ich … «
»Danke. Ich brauche nichts.«
»Aber das Buch können Sie … «
»Ja, danke. Einen schönen Tag noch.« Endlich kann ich die Tür schließen und rase zurück ins Wohnzimmer. Der Heuler ist verschwunden, ich kann ihn nur noch hören. Letztendlich stelle ich fest, dass er sich unter dem Sofa verkeilt hat und alleine nicht mehr rauskommt. Seine vier Läufe versuchen rhythmisch, sich zu befreien. Nachdem ich das Sofa angehoben habe, kriecht der Heuler mit letzter Kraft auf mich zu und setzt sich vor mich.
»Was bist du bloß für ein Trottel«, sage ich zu ihm, und er versucht, ansatzweise zu knurren, was ihm aber nicht gelingt. Was für ein Buch hat mir der Herr Richter denn da überhaupt gegeben? Ich fasse es nicht, tatsächlich
Grimms Märchen
.
Erst will ich das Buch weglegen, aber dann habe ich eine Idee.
5
»Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wusste nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm.
›Guten Tag, Rotkäppchen‹, sprach er.
›Schönen Dank, Wolf.‹
›Wo hinaus so früh, Rotkäppchen?‹
›Zur Großmutter.‹
›Was trägst du unter der Schürze?‹
›Kuchen und Wein: Gestern haben wir gebacken, da soll sich die kranke und schwache Großmutter etwas zugut tun und sich damit stärken.‹
›Rotkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?‹
›Noch eine gute Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen
Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten sind die Nusshecken, das wirst du ja wissen‹, sagte Rotkäppchen.
Der Wolf dachte bei sich: ›Das junge zarte Ding, das ist ein fetter Bissen, der wird noch besser schmecken als die Alte: Du musst es listig anfangen, damit du beide erschnappst.‹«
Die Idee war ein schwerwiegender Fehler. Dabei wollte ich dem Heuler doch nur ein bisschen von seinesgleichen erzählen, vielleicht seine eigene Listigkeit aus ihm herauskitzeln. Aber der Heuler reagiert panisch auf das Märchen, nach jedem Satz wird er noch kleiner, er rollt sich wurmförmig zusammen und bebt am ganzen Leib. Ich starte einen letzten Versuch, um ihn aus seiner
unterwürfigen Haltung zu locken, und erzähle ihm den Schluss, aber als der Heuler hört, dass der böse Wolf Steine im Bauch hat und letztendlich in einen Brunnen fällt, um darin jämmerlich zu ertrinken, ist es aus mit seiner Fassung. Der Heuler fängt an zu heulen. Also zu weinen. Die Tränen stürzen aus seinen Augen, und ich klappe schnell das Buch zu und frage mich, wohin das alles noch führen soll. Wenigstens bin ich wieder nüchtern. Aber der Heuler hört nicht auf zu heulen. Es wird nicht mehr lange dauern, und ich werde wahnsinnig.
Das Telefon klingelt. Wenn das jetzt wieder dieses Marktforschungsunternehmen ist, kann ich für nichts mehr garantieren. Aber es ist nur Malte von der Taxizentrale, der mich fragt, ob ich heute spätabends eine Tour nach Schleswig-Holstein übernehmen kann, um dort Gäste aus einer Diskothek abzuholen, die telefonisch einen Wagen vorbestellt haben.
»Ich hab den Namen nicht verstanden«, sagt Malte frohgemut wie immer. »Aber sie meinten, du würdest sie schon erkennen. Sie tragen Jacken.«
Sicher, Malte. Natürlich erkenne ich die Leute, weil es in einer Disco ja so wenige davon gibt. Und schon mal gar nicht an einem Freitagabend. Und Jacken trägt heutzutage auch kein Mensch mehr. Da werden Jackenträger doch gleich aus der Masse herausstechen. Aber Malte ist kein Typ, der in Discos geht, woher soll er das also wissen?
»Wann soll ich denn da sein?« Wenigstens ist der Heuler still, das Telefonklingeln hat ihm mental zugesetzt.
»Um Mitternacht. Und pünktlich bitte.«
»Ich bin
immer
pünktlich, Malte. Da gibt es
ganz andere
Kollegen.«
»Sicher bist du pünktlich, sicher«, sagt Malte schnell, um einen Konflikt mit mir im Keim zu ersticken. Er und der Heuler würden sich gut verstehen. Malte ist der devoteste
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