Saugfest
teures Designerkostüm in Größe 36 zulegt, um dann zu sagen: »Jetzt nehme ich aber rapide ab, und in einem halben Jahr passe ich rein.« Aber Heidelinde hat Glück. Sie ist erst einmal in eine Verkehrskontrolle geraten, und zwar an Polizisten, die das Promillemessgerät im Kofferraum ihres Dienstwagens suchten und dabei feststellten, dass der mit Altglas gefüllt war, um dann darüber zu diskutieren,
wo man das denn jetzt auf die Schnelle entsorgen kann, und sie waren in ihr Gespräch so vertieft, dass sie Heidelinde weiterfahren ließen, worüber
sie
sehr froh war,
ich
habe mich sehr aufgeregt. Wozu zahlt man Steuern? Damit man verbeamteten Menschen noch erklären muss, wo sich die einzelnen Entsorgungscontainer befinden? Man sollte doch annehmen, dass gerade diese Leute die städtischen Gepflogenheiten und Standorte kennen sollten. Außerdem gibt es Google Earth.
»Es wird schwierig mit nächster Woche«, sage ich, während ich aufstehe und unruhig beobachte, wie eine der weißbehemdeten Frauen sich an meinem Laptop zu schaffen macht. Sachte berührt sie es mit ihren langen, knochigen Fingern.
»Was soll das heißen?«, geht es los. »Willst du deiner altersschwachen Mutter zumuten, zu Fuß zu Doktor Doktor Münkelstedt zu gehen? Soll ich auf dem ungestreuten, eisglatten Asphalt ausrutschen, der Länge nach hinfallen und dann mit einem Oberschenkelhalsbruch weiterleben, der mir meine restlichen Tage grauenhafte Schmerzen bereiten wird, weil die stümperhaften Ärzte in den Krankenhäusern heutzutage zu nichts mehr in der Lage sind, noch nicht mal dazu, Knochen fachgerecht wieder zusammenzufügen? Ist es das, was du willst?«
Das hat die Mutter von der hübschen Protagonistin Rose in
Titanic
auch gesagt, bevor sie ihrer Tochter unter Deck das Korsett brutal geschnürt hat. Sie sagte erst zur Kammerzofe: »Den Tee, Trudy!«, und dann zu ihrer Tochter: »Willst du, dass ich als Näherin unser Geld verdiene? Willst du, dass all unsere schönen Sachen versteigert werden, unsere geliebten Erinnerungen verstreut werden? Ist es das, was du willst?« Und dann sagt sie zu Rose, vielleicht auch vorher, dass sie selbstsüchtig sei, weil sie diesen schmierigen Caledon Hockley nicht heiraten will, sondern lieber mit einem heimatlosen Lumpen durchbrennen möchte, der ihr Spucken und Reiten wie ein Mann beibringen will.
»Natürlich will ich das nicht. Können Sie das bitte mal
lassen
? Das gehört Ihnen nicht. Das ist fremdes Eigentum«, weise ich die Frau
mit den knochigen Fingern zurecht, die mich aber nur irr grinsend anschaut, ihren Kopf mit den langen, grauen Haaren zurückwirft und gespenstisch anfängt zu lachen. Wie eine Wahnsinnige. Oder wie jemand, der … der schon seit langem … in modrigen Kellern … in modrigen Kellern … der nie ans Tageslicht kommt … der unten bleiben muss, weil er Tageslicht nicht verträgt … der … oh. Oh. Oh!
Es überkommt mich wie jemanden, der lange Zeit an einem schwierigen Puzzle gesessen und endlich das entscheidende Teil gefunden hat. Natürlich! Jetzt weiß ich, was mir so komisch vorkam. Ich habe es nur verdrängt. Mir schwant Fürchterliches. Ich bin hier mit einer Spezies konfrontiert, die ich ganz und gar nicht ausstehen kann. Und ich weiß eines: Ich weiß alles!
»Mama!«, kreische ich ins Telefon. »Ich bin in dem Keller eines … hier sind lauter … « Wann habe ich zum letzten Mal so geschrien? Ich glaube, mit drei Jahren.
»Fährst du mich jetzt oder nicht?«
»Mama! Hilfe!« Ich weiche zurück und wedele mit der freien Hand vor mir herum, um den Eindruck zu erwecken, ich sei in der Lage, mich eigenständig zu verteidigen.
»Ich habe dich großgezogen und mit Kleidung versorgt. Auch mit Wollunterhosen«, geht es weiter. »Letztens hab ich mit Heidelinde mal ausgerechnet, was ein Kind so kostet, bis es achtzehn ist. Soll ich dir die Summe mal nennen? Da fällst du um! Das ist eine teilrestaurierte Hofreite im westlichen Niedersachsen. Das sind mal mindestens hundertfünfzigtausend Euro,
wenn das reicht
. Da ist Taschengeld noch nicht mit drin, falls du das jetzt anmerken solltest, das kommt dann noch extra. Von Klassenfahrten mal ganz abgesehen. Weißt du noch, als ihr damals nach Waldmichelbach im Odenwald gefahren seid? Zehn Tage. Ich frag dich, wann war ich denn mal zehn Tage im Urlaub? Einmal war ich mit Papa im Hunsrück, und zwar über ein verlängertes Wochenende in einer Pension, die hatten nur abgepackte Wurst, obwohl im Prospekt stand: ›Aus
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