Saugfest
Gewebe, das will man ja auch nicht. Es ist wirklich traurig.« Leidend zieht William seine Hose wieder hoch und sein Hemd an, was mich dankbar stimmt. Fast habe ich das Gefühl, wieder eine Zukunft zu haben. Langsam begebe ich mich in eine normale Sitzhaltung zurück.
Sigrun bückt sich. Ihr runzliges Gesicht ist nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt. »Bist du gesegneten Leibes?«, fragt sie fürsorglich.
»Nein«, sage ich. »Ich bin schon lange aus der Kirche ausgetreten.«
»Sie meint nicht die Kirche, sie meint, ob du guter Hoffnung bist«, erklärt mir Zottel.
»Nein, bin ich nicht. Sehe ich so aus?«, rege ich mich auf.
Weder hoffe ich auf irgendwas, seitdem ich diese Wesen kenne, noch kriege ich ein Kind. Das wäre ja noch schöner.
»Entschuldigung«, Zottel ist beleidigt. »Ich wollte bloß erklären.« »Du kannst dir deine Erklärungen in die Haare schmieren«, fahre ich ihn an.
Zottel geht gar nicht auf die Beleidigung ein; möglicherweise ist er diesbezüglich eine Menge Kummer gewohnt. »Wenn sie dauernd umfällt, passt sie eventuell doch nicht so recht zu uns«, sagt er, zu Hubertus gewandt, und der erwidert: »Gemach, gemach, nun mach mal nicht gleich die Pferde scheu.«
Ich möchte vehement etwas entgegnen, doch in diesem Augenblick klingelt mein Handy, was mich wundert, weil ich es unglaublich finde, dass man hier unten Empfang hat. Entsetzte Aufschreie machen die Runde. War man eben schon wegen des Laptops durcheinander und hat ihn angesehen wie eine kurz vor der Explosion stehende Tellermine, grunzt man nun immer lauter werdend erneut herum wie eine Horde todessehnsüchtiger Lemminge, die über Klippen springen möchte und schon Anlauf genommen hat, um von einer mutwillig errichteten Barriere daran gehindert zu werden. Leider oder passend habe ich als Klingelton
Spiel mir das Lied vom Tod
gewählt und suche das Telefon hektisch in meiner Tasche.
William ist mal wieder der Einzige, der die Nerven behält: »Großartig!«, ruft er. »Bei schottischen Schlachten hätten wir das mal als Kampfsignal nehmen sollen. Edward der Erste hätte sich schnell aus dem Staub gemacht. Er und seine ganzen Untertanen. Dann würde heute vieles anders aussehen. Dann würde mein Kopf … « Endlich finde ich dieses bekloppte Handy. »Hallo?«
»Denkst du daran, dass du mich nächste Woche zum Osteopathen fahren musst? Du weißt, ich komm da mit öffentlichen Verkehrsmitteln überhaupt nicht hin, man kommt von hier aus nirgendwohin, und Heidelinde kann nicht, weil der Wagen sich doch nach sechzehn Uhr immer so aufregt.«
Meine Mutter. Das ist jetzt äußerst ungünstig, aber wenn ich das sage, wird es meine Mutter
kein bisschen
interessieren. Ich
weiß
es. Egal, was ich antworte, sie wird nur das hören, was sie hören
will
. Das ist seit fast drei Jahrzehnten so, und das wird sich auch in den kommenden Jahrzehnten nicht ändern. Seit der Scheidung von meinem Vater kann man meine Mutter gelinde gesagt als wunderlich bezeichnen. Gemeinsam mit einer ehemaligen Klassenkameradin wohnt sie in Hamburg-Winterhude, und es ist einfach nicht wahr, dass man von Winterhude aus mit Bus oder Bahn
nirgendwohin
kommt. Zumal der Osteopath, dieser Quacksalber, den ich nur einmal gesehen habe und den ich nie mehr wiedersehen will, seine Scharlatanpraxis direkt an einer Bushaltestelle hat, welche nur vier Haltestellen vom Haus meiner Mutter entfernt liegt – die im Prinzip nur aus der Tür fallen muss, um in den Bus einzusteigen, aber es ist sinnlos, jetzt damit anzufangen. Meine Mutter hat allen Ernstes schon mal behauptet, die Bushaltestellen seien willkürlich verlegt worden und sie fände sich in ihrem Stadtteil nicht mehr zurecht, was natürlich ebenfalls nicht stimmte. Sie ist einfach nur stinkfaul und liebt es, sich von A nach B kutschieren zu lassen. Ganz besonders toll findet sie es, dabei in meinem Taxi zu sitzen, weil die Leute dann denken, »die hat Geld«.
Und das mit Heidelindes Wagen stimmt auch nicht. Heidelinde schwört Stein und Bein, dass ihr Auto im Berufsverkehr, also nach sechzehn Uhr, nicht mehr klarkomme und psychisch schon sehr angeknackst sei, was Rost im Lack beweise. Dass sie, Heidelinde, eine Gefahr für die Menschheit ist, weil sie mangels Führerschein überhaupt nicht Auto fahren kann, darüber wird natürlich nie gesprochen. Irgendwann hat sie sich ein Auto gekauft, um »gleich danach den Führerschein zu machen«. Das ist so, als wenn man sich mit Konfektionsgröße 52 ein sündhaft
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