Saugfest
können doch jetzt nicht einfach gehen. Das wäre Fahrerflucht.«
»Sitzen wir im Auto? Hä? Sitzen wir im Auto? Nein, tun wir nicht. Wir entfernen uns jetzt unauffällig, irgendjemand wird sich schon um ihn kümmern.«
Aber Ali lässt sich seine überbordende Hilfsbereitschaft nicht ausreden. »Ich möchte mir nichts vorwerfen müssen. Außerdem kann ich Blut nur schwer ertragen, es sei denn, ich bin hungrig.«
Offenbar ist er auch auf den Kopf gefallen, irgendwann mal, und leidet noch an den Spätfolgen.
Ich versuche, mir die nahenden Passanten mit diesen Bewegungen
vom Leib zu halten, die man sonst nur macht, wenn man futtergierige Möwen auf Helgoland verscheuchen möchte.
Aber da horche ich auf. »Herr van Reckenberg!«, ruft eine Frau. »Was ist denn bloß passiert? Sie sind ja verletzt! Soll ich einen Arzt rufen?«
»Das ist nicht nötig«, sage ich ruhig und besonnen und knie mich neben Ali, um den Radfahrer umzudrehen. Bingo! Es ist tatsächlich Goske. Er hat immer noch so einen tumben Gesichtsausdruck, blöd, blöder, am blödesten.
»Ich bin Knochenchirurgin … kommen Sie, ich helfe Ihnen.«
»Knochenchirurgin?«, fragt Ali verwirrt. »Ich denke, du bist … « »Das ist ein Sanitäter«, sage ich zu Goske und sehe Ali böse an. »Wir waren zufällig zur Stelle. Beruhigen Sie sich«, sage ich zu der Frau, die Goske erkannt hat. »Wir kümmern uns um ihn. Sie müssen sich absolut keine Sorgen machen. Knochenchirurgen sind im Alltag vieles gewohnt. Das hier ist ein sehr, sehr leichter Fall.« Sie nickt erleichtert und geht weiter. Ali stellt Goskes Fahrrad in einen Hauseingang.
Knochenchirurgin
– das gefällt mir. Und es passt. Weil ich Goske nämlich am liebsten alle vorhandenen Knochen brechen würde. Aber alles zu seiner Zeit.
Ich bin auch plötzlich gar nicht mehr müde. Das scheint an dem Adrenalin zu liegen, das gerade in Strömen durch meine Adern fließt. Ich habe meine Nummer eins!
»Wir fahren jetzt zum Arzt«, erklärt Ali unserem neuen Fahrgast und sieht mich auffordernd an.
»Mein Bein ist ganz taub. Und offen«, sagt Goske leidend.
»Sind Sie jetzt versichert oder nicht?«, frage ich zum wiederholten Mal.
»Es war doch Ihre Schuld … «, fängt Goske an, und sofort schalte ich ruckartig, bis das Getriebe knirscht, dann trete ich fest die Bremse, kupple wieder ein und das genau so lange, bis er leidend schreit: »Au, aua, könnten Sie bitte etwas langsamer fahren?«
Es tut so gut.
»Rechts geht es zu einem Krankenhaus«, Ali deutet auf ein Schild. »Bieg doch bitte rechts ab zu den Elbe-Kliniken. Sonst verfransen wir uns gleich und finden den Weg nicht mehr.«
»Au«, sagt Goske bekräftigend.
Ich biege natürlich nicht rechts ab, sondern fahre weiter in Richtung Hamburg zurück. Weil ich nämlich noch jemanden von der Liste einsammeln möchte. Es soll zügig vorangehen. Das Auto ist noch nicht voll. Da passen noch zwei Personen rein. Der Heuler kann sich in den Fußraum quetschen, das wird ihm gefallen, da ist er geschützt, und es kann ihm nichts passieren. Und vor verschmutzten Kunststoffmatten wird er ja wohl keine Angst haben. Wo ist der Heuler überhaupt?
»Wo ist der Wolf?«, frage ich Ali und mache eine Vollbremsung, bei der ein Fellknäuel vom Autodach auf die Windschutzscheibe rutscht, versucht, mit seinen Pfoten Halt zu finden, und dann jämmerlich zu winseln beginnt. Eine Sekunde später reißt er mit seinen Läufen einen Scheibenwischer ab.
Auch das noch. Da fahre ich die ganze Zeit mit einem Wolf auf dem Dach durch den Landkreis Buxtehude. Sonst fängt er an, bei jedem Käfer zu flennen, aber diesmal ist er still geblieben. Wie er da raufgekommen ist, frage ich jetzt einfach gar nicht.
»Der arme Satan«, Ali steigt aus und beginnt, den Heuler zu tätscheln. Jetzt muss ich auch noch einen Scheibenwischer besorgen. Und natürlich fängt es wie auf Befehl an zu schütten. Das passt ja.
»Der böse, böse Scheibenwischer, der hat dir weh getan«, tröstet Ali den Heuler. »Schau, Satan, der tut dir nicht mehr weh, und der andere auch nicht.« Ali reißt den zweiten Scheibenwischer runter.
Und dieser bescheuerte Goske sagt zu allem Überfluss auch noch: »Es regnet.«
Für den Bruchteil einer Sekunde wünsche ich mir mein altes Leben zurück.
15
Ich weiß nicht, wer und ob überhaupt schon mal jemand mit einem ehemaligen Herbergselternsohn mit Beinproblemen sowie mit einem gestörten Fischliebhaber und einem Wolf, der keiner ist, ohne
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