Saugfest
hätte gehen können, um mich auszuheulen. Noch nicht mal Fotos, auf denen wir beide drauf waren. Ich war ganz allein. So fing ich an, ihr die Briefe zu schreiben, parallel dazu habe ich sie natürlich gesucht. Aber ihre Freundinnen wussten auch nicht, wo sie war, oder sie haben es mir einfach nicht gesagt, weil sie mich sowieso nicht mochten. Die hab ich nämlich auch alle mies behandelt. Also schrieb ich und schrieb, jeden Tag. Davon, wie sehr ich sie vermisse, wie sehr ich meine Fehler bereue, dass ich alles wiedergutmachen würde, wenn sie nur zurückkommt. Aber sie kam nicht. Und nun sitze ich hier und bin einsam. Wie gern würde ich ihr all die Wünsche erfüllen, die sie im Laufe der Jahre hatte. Ich möchte mit ihr Arm in Arm spazieren gehen, ich möchte zur Weihnachtszeit die Fensterscheiben mit Kunstschnee besprühen, ich will mit ihr den Sommerregen spüren und ihr sagen, dass ich sie liebe. Denn ich liebe sie wirklich. Ich habe es ihr nur nie gesagt.«
Nun ist es fast vorbei mit meiner Fassung. Kunstschnee! Genau
das, was ich auch für Hubertus machen wollte! Ach, Hubertus! Warum hast du mir denn nicht wenigstens kurz zugehört? Ich bin auf dem besten Wege dazu, geläutert zu werden. Na ja, fast. Wollen wir uns darauf einigen, dass ich mich bemühe? Bemühen klingt immer gut.
Meine Nase beginnt zu laufen.
»Bestimmt würden Sie auch einen Lammbraten für sie machen«, bringe ich mit letzter Kraft hervor.
Herr Richter sieht mich irritiert an. »Das nun nicht gerade«, sagt er. »Ich esse schon lange kein Fleisch mehr.«
Ich nehme mir ungefragt ein Papiertaschentuch vom Nachttisch und schnäuze lautstark hinein.
»Das ist alles so traurig«, keuche ich dann.
»Ist es, ist es«, sagt Herr Richter. »Ich kann Ihnen nur raten, es anders zu machen als ich damals. Sie haben die gleichen Gesichtszüge wie ich. Mürrisch. Schlecht gelaunt. Sie werden bald schon so einen bitteren Zug um den Mund bekommen, und Falten. Die ersten Anzeichen sind schon da.«
»Wirklich?«
»Ja, ich sehe das. Ich werde bald einundachtzig, mir macht keiner mehr was vor. Meine Zeit ist vorbei, Ihre noch nicht. Machen Sie was draus.« Er hustet noch mal. »Das stimmt doch, oder? Ich hab recht, stimmt’s?«
Ich nicke. »Ich bin ein schlechter Mensch. Ich habe … ich habe noch nicht mal eine werdende Mutter aus Japan mit Presswehen korrekt behandelt. Und ich bin auf ihre Tüte getreten, in der sich Hummelfiguren befanden. Extra. Weil ich Hummelfiguren nicht mag.«
»Das kenne ich«, sagt Herr Richter weise. »Und das wird nicht das einzig Schlechte gewesen sein, das Sie getan haben.«
»Nein.« Ich schüttele den Kopf. Dann erzähle ich ihm alles, von Anfang an. Ich beginne mit der Klassenfahrt nach Waldmichelbach und berichte ihm von meinem ganzen Leben. Natürlich erzähle ich auch von Hubertus und wie enttäuscht ich bin, weil ich
das erste Mal das Gefühl hatte, jemanden wirklich, also so richtig zu mögen. Je mehr ich rede, desto schäbiger fühle ich mich.
»Und nun habe ich niemanden mehr, genau wie Sie. Alle haben sich von mir distanziert. Ich hab nur noch den Heuler. Das ist ein Wolf. Er wartet vor dem Krankenhaus. Meinen Job bin ich auch bald los.«
Schnäuzen.
Herr Richter schüttelt sachte den Kopf. »Nun, manchmal muss man nicht sitzen, sondern liegen, um wieder aufstehen zu können«, sagt er. »Wenn man es geschafft hat, liegt man aber nicht mehr so schnell.«
»Wie meinen Sie das?«
»Damit meine ich, dass Sie aufstehen sollen. Sie sind jung, Sie haben noch Zeit. Bei mir sieht es anders aus. Aber Sie sind ja gerade mal Anfang vierzig!«
»Ich bin neunundzwanzig.« Ich stelle es nur fest, für ein anklagendes »Na hören Sie mal!« bin ich zu matt.
»Sehen Sie, das meinte ich mit dem Gesichtsausdruck.« Er schiebt seine Bettdecke zur Seite. »Dann mal los«, sagt Herr Richter agil. »Es gilt jetzt, Ihr Leben zu ändern. Und ich werde Ihnen dabei helfen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«
Selbstverständlich gibt es noch Diskussionen mit dem Stationsarzt und den Krankenschwestern, aber letztendlich unterschreibt Herr Richter einen Wisch, in dem steht, dass er das Krankenhaus auf eigene Verantwortung verlassen möchte.
Ich packe ihn und den Heuler, der brav gewartet hat, ins Taxi und fahre los.
»Wir müssen aber erst noch Erich holen«, sagt Herr Richter. »Es gibt ja niemanden, der sich um ihn kümmert.«
Also holen wir Erich mitsamt seiner Voliere und stellen sie auf den Rücksitz. Ich
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