Saugfest
für alles«, sage ich. »Aber am allermeisten dafür, dass Sie diese Briefe geschrieben haben.«
»Die Briefe. Sie haben die Briefe gelesen?«
»Ja. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse.«
»Ach wo. In meinem Alter ist man nicht mehr böse, höchstens starrsinnig. Aber auch das ist mir bislang erspart geblieben.«
»Diese Briefe … «
»Die Briefe an mein Ännchen.«
»Ja, genau die. Ich hab sie
alle
gelesen.«
»Das muss ja gedauert haben.« Er scheint sich richtig zu freuen.
»Hatten Sie zwischendurch keinen Hunger? Da war noch Käse im Kühlschrank und angebrochenes Quittengelee.«
Natürlich. Gelee.
»Nein, ich hatte keinen Hunger. Herr Richter, wie war das mit Ännchen und Ihnen? Stimmt das alles, was in den Briefen steht?«
»Alles ist wahr.« Er beugt sich nach vorn und blinzelt ein wenig. »Auch dass ich alles bereue, was ich in meinem Leben mit Ännchen falsch gemacht habe, ist wahr. So wahr ich Hans Richter heiße. Oder glauben Sie etwa, ich hätte mir das alles ausgedacht? Nein, nein. Das wahre Leben kann man sich nicht ausdenken.«
»Mir kommt das alles so bekannt vor.«
»Was denn? Das, was in den Briefen steht?«
»Ja.« Ich rücke noch ein Stück näher. »Sie schreiben darin, dass Sie Ännchen nicht gut behandelt haben. Dass Sie immer schlecht gelaunt waren und die Launen an ihr ausgelassen haben. Dass Sie alles rückgängig machen würden, wenn Sie nur könnten, aber dass es jetzt dafür zu spät ist.«
»Das stimmt.« Herr Richter hustet kurz und nickt dabei. »Ich war der schlechtestgelaunte Mensch auf der ganzen Welt. Und erst als
Ännchen gegangen ist, wurde mir klar, was für ein Vollidiot ich gewesen war.«
»Also ist sie 1995 gestorben. An diesem Datum fangen die Briefe ja an.«
Er sieht verwirrt aus. »Wieso denn gestorben?«
»Sie schreiben doch davon, dass sie von Ihnen gegangen ist.«
»Ha!«, ruft er. »Das Ännchen ist nicht tot. Sie hat mich verlassen. Getrennt hat sie sich von mir. Und ich Hornochse hab noch gesagt: Geh nur. Wirst schon sehen, wie es läuft. In spätestens einer Woche kommst du wieder angekrochen!«
»Und? Sie kam wohl nicht?«
»Nein.« Traurig lehnt er sich zurück. »Sie kam nie wieder. Sie war zu verletzt. Ich bin zu weit gegangen. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.«
»Ja … aber … haben Sie sie denn nicht gesucht?«
»Natürlich hab ich das. Sogar das Rote Kreuz hab ich angerufen, aber der Drachen am Telefon meinte, es würde sich ja um keinen schwerwiegenden Fall handeln. Wäre Ännchen im Zweiten Weltkrieg verschollen oder so, wäre es was anderes gewesen. Diese Frau meinte sogar, sie könnte Ännchen verstehen. Wissen Sie, Kind, ich war immer egoistisch, hab nur an mich gedacht. Schon als ich klein war, bin ich mir selbst der Nächste gewesen. So ging das weiter. Ich kann mich nicht dran erinnern, jemals gelacht oder mich gefreut zu haben. Ich habe alle schlecht behandelt, wahrscheinlich, weil ich mich selbst nicht mochte. In jedem Menschen sah ich meinen persönlichen Feind. Wenn jemand nett zu mir war, hab ich ihn dafür bestraft.«
Weil ich mich selbst nicht mochte …
»Ich hab sie alle beleidigt, ich war ein Einzelgänger. Sogar während der schweren Nachkriegszeit, wo ja Zusammenhalt und Kameradschaft auch zu Hause zählte, wollte ich keinen um mich haben. Noch nicht mal Trümmerfrauen.«
»Wieso haben Sie Ännchen dann geheiratet?«
»Um eine Wohnung zu bekommen«, gibt Herr Richter zu. »Ich
hab sie in einem Café kennengelernt. Wir hatten beide nichts, so haben wir uns zusammengetan. Sie hat mich sehr geliebt. All die Jahre. Wenn sie noch lebt, müsste sie jetzt sechsundsiebzig sein. Sie ist fünf Jahre jünger als ich. Vor fünfzehn Jahren dann ist sie weg. Natürlich gab es vorher Diskussionen, sie hat mich teilweise richtig angefleht, nett zu ihr zu sein, sagte, dass sie mich über alles liebt. Sie wollte mit mir zusammen fotografiert werden, um bleibende Erinnerungen zu schaffen, aber Fotos waren mir egal. Also hat sie sich von anderen ohne mich fotografieren lassen. Ich war so dumm, ich hab sie nicht an mich rangelassen, so wie auch sonst niemanden. Und wie gesagt, dann lief sie weg.«
Nicht an mich rangelassen …
»Tscha, und dann war da die leere Wohnung. Ich ging durch die Zimmer und merkte plötzlich, dass mir etwas fehlte. Merkte dann, dass sie es war, die mir fehlte. Dann merkte ich noch etwas: Ich hatte niemanden auf dieser Welt. Keine Kinder, keine Freunde, noch nicht mal Bekannte, zu denen ich
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