Saugfest
bleibenden Schäden davonträgt. Mit Erich muss man leise reden, Erich verträgt keine Zugluft, Erich mag Fernsehen und hasst Kürbiskerne aus dem Supermarkt. Die Fernbedienung für den Fernseher liegt in einem kleinen Strohesel, der zusätzlich als Zeitungshalter dient, er steht neben dem Sofa und wurde von Herrn Richter mal aus Capri mitgebracht. Das ist aber schon lange her. Ich wette, wenn ich noch ein bisschen länger auf dem Revier bliebe, würde der Beamte mir auch noch erzählen, wann Erwin in der Mauser ist und wie sich dann sein Verhaltensmuster ändert. Und wie Herr Richter sich rasiert, nass oder trocken, und ob er lieber kalt oder warm schläft. Was er zum Frühstück isst, weiß ich ja bereits. Selbstgemachte Marmelade. Meine Aussage ist inzwischen komplett in den Hintergrund gedrängt.
Nachdem ich alles gesagt habe, was zu sagen ist, und alles unterschrieben habe, was zu unterschreiben ist, fahre ich nicht, wie ursprünglich geplant, zu Herrn Richter ins Krankenhaus, sondern zurück in dessen Wohnung. Hoffentlich ist diesem Erich nichts passiert. Wie soll ich das sonst Herrn Richter beibringen?
Ich schließe auf und gehe rein, mache im Flur Licht, und dann bleibe ich auch schon stehen, weil ich völlig irritiert bin von dem, was ich sehe.
22
Überall an den Flurwänden befinden sich Bilder, Fotografien. Die Strukturtapete ist kaum zu sehen. Die Bilder zeigen nur eine einzige Frau. Auf manchen ist sie sehr jung, auf anderen schon älter, auf wiederum anderen sehr alt. Irgendwie erinnert sie mich an jemanden, aber ich weiß nicht, an wen. Die Fotos, auf denen sie jung ist, sind schwarzweiß, und sie stecken in verschnörkelten Rahmen, ich tippe auf Jugendstil. Es sind Hunderte von Bildern.
Sie lacht sehr sympathisch und fröhlich auf vielen der Fotos, hat schwarze Locken und trägt diese Kleider, die man früher eben trug. Auf manchen Bildern hält sie einen Sonnenschirm. Im Hintergrund schwimmen Schwäne auf einem Teich herum. Auf manchen sitzt sie in einem Café, vor sich einen Teller, auf dem sich wohl Kuchen befindet. Dann gibt es ein Bild, auf dem sie ein enganliegendes rotes Pailettenkleid trägt und eine Federboa, und im Hintergrund ist ein Feuerwerk zu sehen, das die Zahl 1960 in den Himmel malt. Sie lacht und zeigt ihre ebenmäßigen Zähne. In der Hand hält sie ein langstieliges Sektglas. Es folgen Fotos, auf denen die Frau mal auf einem Diwan liegt, mal in der Küche steht, auf einem anderen scheint sie Trauzeugin auf einer Hochzeit zu sein.
Aber auf keinem der unzähligen Fotos ist sie mit einem Mann gemeinsam zu sehen. Das finde ich merkwürdig und auch ein Stück weit unheimlich.
Der Flur ist zu Ende. Rechts geht es ins Wohnzimmer, wie ich vermute, und links ist eine Tür geschlossen, ich denke, da befindet sich das Schlafzimmer. Behutsam und mit einer diffusen Angst,
erwischt zu werden, drücke ich die Klinke hinunter und öffne langsam die Tür. Ich bin mir sicher, dass die Tür quietschen wird, sie tut es aber nicht. Ich knipse das Licht an. O mein Gott.
An rollbaren antiken Holzgarderoben hängen Kleider an langen Stangen. Zehn, fünfzig, hundert. Ehrfürchtig stelle ich mich vor eine der Stangen und ziehe mit spitzen Fingern eins ein Stück weit vor. Es strömt einen Duft nach Veilchen und Vergangenheit aus. Es ist weiß, hat Rüschen und hellblaue Satinbänder, die zu Schleifen gebunden daran befestigt sind.
Das Kleid daneben ist dunkelrot und mit Pailletten übersät. Es muss das Kleid sein, das die Frau auf dem Silvesterfoto getragen hat. Ja, da ist ja auch die Federboa. Ich streiche leicht darüber, und einzelne kleine Federn lösen sich und fallen wie in Zeitlupe zu Boden. So geht es weiter. Ein Kleid nach dem anderen; insgesamt sind es vier Garderobenständer. In dem Raum befindet sich auch ein alter, wuchtiger, verschnörkelter und mit Intarsien verzierter Schrank, der nicht abgeschlossen ist. Hüte, Handtaschen, Schuhe in schätzungsweise Größe 36 . Kosmetiktäschchen. Muffs. Boas, Schals. In der Mitte des Raums steht ein großes Doppelbett. Nur eine Seite davon ist bezogen, was irgendwie traurig aussieht. Unter dem Fenster steht ein langer Tisch mit vielen Schubladen, er sieht ein wenig so aus wie ein Verkaufstisch in einem Laden. Obwohl man das nicht macht, weil es ja jemand Fremdem gehört, öffne ich eine Schublade nach der anderen. Hier stehen fein säuberlich Kartons, die mit Jahreszahlen beschriftet sind. Der allererste Karton trägt die Zahl 1995 . Kurz
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