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Saugfest

Saugfest

Titel: Saugfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffi Wolff
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denke ich nach, dann gehe ich zum anderen Ende des Tischs und ziehe die unterste Schublade heraus. Der letzte Karton dort trägt die Jahreszahl 2010 . Ich schließe die Lade leise und gehe wieder an den Anfang zurück, hole vorsichtig den Karton mit der Aufschrift 1995 hervor und stelle ihn auf die Tischplatte. Ich löse das Band, mit dem er zugehalten wird, und ziehe den Deckel ab.
    Briefe. Nur Briefe.
    Der Heuler, der seit der Abfahrt bei mir ist, scheint keine Mutterinstinkte
zu haben, er vermisst seine Kinder kein bisschen. Dafür klebt er förmlich an meinem Bein und verfolgt mich auf Schritt und Tritt. Den Schwanz hat er eingezogen. Bestimmt erinnert er sich daran, dass ihm hier in diesem Haus Rotkäppchen vorgelesen wurde.
    Ich gehe in die Küche und bin ein Stück weit erleichtert, dass es hier einigermaßen normal aussieht. Ein altes Buffet, ein Herd ohne Dunstabzugshaube, ein Kühlschrank, ein kleiner Tisch, an dem für zwei Personen gedeckt ist.
    Für zwei Personen.
    Nun ja, vielleicht hat Herr Richter Besuch erwartet.
    Ich bin sehr irritiert, aber mein Verantwortungsbewusstsein, wo auch immer es herkommt, befiehlt mir, dass ich mich jetzt erst mal um Erich kümmern muss.
    Vorsorglich hole ich schon mal das Futter aus dem Schrank, dann gehe ich ins Wohnzimmer, auch hier wirkt alles relativ normal, davon abgesehen, dass auch hier viele Fotos hängen; die werde ich mir später vielleicht anschauen, erst mal muss ich mich um den Nymphensittich kümmern, der tatsächlich lebt, apathisch in seiner Voliere sitzt und mich hasserfüllt anstarrt. Dann beißt er sich mit dem Schnabel in den Gitterstäben des Käfigs fest und schlägt mit den Flügeln, was eine Menge Staub aufwirbelt. Weil ich mich nicht traue, die Tür der Voliere zu öffnen, werfe ich das Futter einfach durch die Gitterstäbe hinein. Und Wasser im Tontopf ist auch ausreichend vorhanden. Der Vogel ist auf einmal wie ausgewechselt, stürzt sich wie eine Furie auf die Körner und scheint fürs Erste Beschäftigung zu haben.
    Und ich laufe zurück ins Schlafzimmer, setze mich auf den gepolsterten, mit Samt bezogenen Stuhl und ziehe den vordersten Brief aus der Schachtel heraus.
    Ich beginne zu lesen.
    Ich lese den nächsten.
    Den übernächsten.
    Ich lese sie alle.
    Als es dunkel wird, knipse ich eine Lampe an, die auf dem Tisch steht, und ein sanftes Licht erhellt den Raum.
    Ich lese weiter. Und weiter.
    Ich vergesse völlig die Zeit, ich habe weder Hunger noch Durst.
    Es ist ein wenig so, als würde ich mein eigenes Leben lesen.
     
    Stunden später lege ich den letzten Brief zurück in den Karton und knipse das Licht aus. Es ist immer noch dunkel. Erich rührt sich nicht. Der Heuler hat sich auf meine Füße gelegt und wärmt sie mit seinem Fell.
    Ich schaue aus dem Fenster.
    Und plötzlich nimmt eine seltsame Ruhe von mir Besitz.
    Auf einmal weiß ich ganz genau, was ich tun muss.

23

     
    Herr Richter sitzt aufrecht in seinem Bett. Vor sich hat er mehrere Blätter Papier liegen, die er konzentriert am Beschriften ist.
    »Ich fülle gerade eine Patientenverfügung aus«, werde ich begrüßt. »Ich darf gar nicht daran denken, dass ich ins Koma falle und dann an diese Schläuche angeschlossen werde. Nein, die sollen mich sterben lassen, wenn es so weit ist.«
    »Aber Herr Richter«, sage ich. »Der Arzt hat doch gesagt, dass es gar nicht schlimm um Sie steht. Sie sind auf dem Weg der Besserung. Wirklich.«
    »Das sagen sie immer«, er schnaubt auf. »Und dann, mir nichts, dir nichts, hängt man an den Gerätschaften.«
    Vielleicht sollte ich Herrn Richter mit den Harnkes bekannt machen. Die mögen ja Leute, die auf Herz-Lungen-Maschinen verzichten, unheimlich gern.
    »Wie geht es Ihnen denn?«
    »So weit, so gut. Ein alter Baum lässt sich so leicht nicht umblasen. Da muss schon ein richtiger Sturm kommen. Natürlich knicken mit der Zeit ein paar Äste ab, aber das schadet der Wurzel nicht. Sagen Sie, was macht Erich? Hat er seine Körner bekommen? Er war über der Zeit.«
    »Hat er. Ich hab mich um alles gekümmert. Da bin ich aber froh, dass es Ihnen bessergeht.«
    »Weiß man denn jetzt schon die Ursache? Warum kokelt meine Wohnung plötzlich ab, während ich auf dem Sofa ein Nickerchen mache?«
    Ich ziehe einen Besucherstuhl ans Bett und setze mich. »Da war
ein Kabel durchgeschmort«, erkläre ich ihm. »Gott sei Dank hab ich das gemerkt. Herr Richter, ich möchte mich bei Ihnen bedanken.«
    »Wofür wollen Sie sich bedanken?«
    »Eigentlich

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