Saugfest
ihn zwingen wollte, eine aus ihren Kreisen zu heiraten, aber er hat sich durchgesetzt und sich gegen seinen übermächtigen Vater gestellt. Letztendlich hat man doch der Heirat zugestimmt, und nun hat er sich auf den Weg zu seiner armen Geliebten gemacht, um ihr die frohe Botschaft persönlich zu überbringen.
Wir sind aber nicht in Schottland und auch nicht im Allgäu, sondern in Linsengericht, und ich muss mir um Herrn Richters Gesundheit ernsthaft Sorgen machen.
Er sitzt mittlerweile auf dem kalten PVC -Boden und keucht zum Gotterbarmen.
Ist denn das die Möglichkeit? Wieso ist Sigrun Ännchen? Und was macht das Ännchen in Linsengericht? Zugegebenermaßen ist das ein guter Ort, um sich zu verstecken. Viele Einwohner gibt es hier nicht, und mal ganz unter uns Gebetsschwestern: In Linsengericht wird man nicht gesucht. Ich kenne niemanden, der schon mal gesucht und in Linsengericht gefunden wurde.
»Hans. Hans. Hans. Hans«, flüstert Ännchen andauernd.
Herr Richter keucht immer noch.
»Fünfzehn Jahre. Fünfzehn Jahre. Fünfzehn Jahre«, sagt er matt.
»Das ist nicht ganz korrekt. Es sind fünfzehn Jahre, drei Monate und neun Tage.« Ännchen kann mir nicht erzählen, dass die Trennung von Hans spurlos an ihr vorbeigegangen ist. Sie sieht so aus, als hätte sie die Tage gezählt. Jetzt sagt sie zur Abwechslung mal »Hans. Hans. Hans« und kniet neben Herrn Richter nieder, der am ganzen Körper zittert.
»Denk an dein Herz!«, ruft Ännchen, und Herr Richter nickt leidend.
»Er hat es schon immer mit dem Blutdruck gehabt«, sagt Ännchen zu mir. »Das viele Rauchen. Immer hab ich gesagt, er soll es bleiben lassen. Dann das viele fette Essen. Immer nur Fleisch.«
»Ich rauche doch schon lange nicht mehr«, wispert Herr Richter. »Seit dem Tag, an dem du verschwunden bist.«
»Er isst auch kein Fleisch mehr.« Ich bin stolz, mich mit dieser wertvollen Information einbringen zu können, auch wenn ich immer noch verwirrt bin. Was sollen diese Fotos?
»Seit dem Tag, an dem du verschwunden bist«, keucht Herr Richter.
»Ja, ist es denn die Möglichkeit?«, ruft Ännchen. »Ich habe ihn nämlich 1995 verlassen«, erklärt sie mir, und ich nicke.
»Ich weiß.«
»Es ging nicht mehr«, sagt Ännchen. »Ich war nur noch ein Wrack. Versuchen Sie mal, einen Menschen über mehrere Jahrzehnte zu ertragen, der dauernd muffig ist und garstig und was
weiß ich nicht noch alles. Sie können das vielleicht nicht verstehen, aber –«
»Ich verstehe das sehr gut.« In Wahrheit verstehe ich gar nichts.
»Stimmt. Stimmt. Das verstehen Sie. Wieso haben Sie eigentlich Hans mitgebracht? Oder kann ich wieder Du sagen?«
»Sicher, sicher«, ich nicke. »Ich, äh, Hans ist mein Nachbar. Und wir sind hier, weil uns ein Fischgeschäft die Adresse von Ali gegeben hat. Ich möchte aber auch etwas wissen. Was ist eigentlich in diesem Keller vor sich gegangen? Ich glaube, ich bin im falschen Film. Was sollte das? Ich … «
»Das sollen dir die anderen erzählen. Ich muss mich jetzt um meinen Hans kümmern.« Ännchen lächelt und streichelt Herrn Richters Arm.
Gut. Dann sollen sie mir aber wirklich alles erklären, und diesmal vernünftig.
Natürlich werde ich dabei höflich sein und auch unter Beweis stellen, dass ich mich geändert habe. Aber wie? Nun, ich könnte Annkathrin und Bernie zum Beispiel zum Einzug in das Saarbrücker Haus Blumenzwiebeln für den Garten schenken und vielleicht sogar einen Baum pflanzen. Ich kann ja eine Birke wählen, die machen einen ganz schönen Dreck, wenn die kleinen Blätter und die Würmer von den Ästen fallen. Arrgh.
»Hans. Hans. Hans.« Ännchen kriegt sich gar nicht mehr ein.
»Ich freue mich so für Sie beide«, sage ich und freue mich wirklich für die beiden. »Nach so langer Zeit dieses Wiedersehen. Wie schön das sein muss.«
»Ännchen. Ich bin ein anderer Mensch geworden. Ich sehe alles ein.« Nun versucht Herr Richter aufzustehen, und Ännchen hilft ihm dabei.
»Er hat dir Briefe geschrieben«, frohlocke ich, weil mich die Situation tatsächlich sehr rührt. »Wunderschöne Briefe.«
»Ach. Ach. Ach«, macht Ännchen. »Das sind ja schöne Nachrichten. Hans, ich habe jeden Tag an dich gedacht.«
»Warum hast du dich dann nicht bei mir gemeldet? Wieso hast du mich darben lassen?«
»Weil du es verdient hattest. Ich dachte ja nicht im Traum daran, dass du tatsächlich etwas einsehen würdest.«
»Oh, Ännchen, ich habe alles eingesehen. Ich bin quasi ein neuer Mensch
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