Saugfest
geworden. Ich hab all die Dinge getan, die du gern hattest, bin alleine wandern gegangen, ich war auf Capri, da wolltest du doch immer hin, und ich habe Gelee gekocht.«
»Auch Johannisbeere?«
»Fast nur Johannisbeere.«
»Nein!«
»Doch!«
Beide sagen: »Ich liebe Johannisbeergelee.«
Ich sage: »Ist das nicht wunderschön?« Wäre ich Inhaberin einer Werbeagentur, der nächste Spot stünde fest. Die Hauptdarsteller auch. Weil ich ein diskreter Mensch bin, lasse ich die beiden einen Moment alleine und gehe in den Raum, aus dem Ännchen beziehungsweise Sigrun gerade gekommen ist. Leise schließe ich die Tür hinter mir.
»Was machst du denn hier?« Ich drehe mich schnell um und mutiere zu einem linkischen Wesen, weil das Hubertus’ Zedernholzstimme ist.
Nun ist meine Zeit gekommen.
Nun kann ich alles aufklären, alles klarstellen, mich bei allen entschuldigen, und alles wird gut werden.
Wie fange ich an?
Ich muss behutsam vorgehen. Hubertus verkraftet zu viel auf einmal möglicherweise nicht. Ich werde ihm die Hand reichen, einen Rehblick aufsetzen und sagen: »Komm, mein Junge, setz dich zu mir. Ich muss dir etwas erzählen.« Noch während ich darüber nachdenke, wie ich das jetzt mache, nimmt mein zweites Ich von mir Besitz, und ich fange an zu brüllen: »Ich hab das alles nicht gewollt! Ich hab alles falsch gemacht! Ich war ein schlechter Mensch. Ich will, dass es dir gutgeht, ich will nicht, dass du wegen
mir ein Weißhemd bleiben musst! Entschuldigung! Entschuldigung! Für alles, alles, alles!« Eigentlich möchte ich auch nach dem Foto fragen und was das alles bedeutet, aber ist das nicht plötzlich so gänzlich unwichtig?
»Aha«, sagt Hubertus und sieht etwas irritiert aus und so, als sei ihm das gar nicht recht, dass ich hier sei.
Als würde das nicht in seinen Plan passen.
Während ich einfach nur so dastehe und Hubertus mit offenem Mund anstarre, um dabei auch noch zu bemerken, dass er gar keine Wunden mehr am Hals hat, genau genommen, sieht es so aus, als hätte er nie welche gehabt, es gibt noch nicht mal verhornte Narben, höre ich, wie sich eine andere Tür öffnet, die ebenfalls in diesen Raum führt, und Hubertus schaut drein, als ob ihm das am wenigsten von allem recht ist.
Ich starre zu der Tür und traue meinen Augen nicht.
Dadurch treten gerade nicht nur sämtliche Insassen des Kellers, sondern auch Annkathrin und ihr blöder Bernie, die I-Gitts und die Weiland aus der Bäckerei, die an einem mitgebrachten Croissant nagt. Aber da sind noch mehr Leute. Malte zum Beispiel. Birte auch. Und Goske. Eine junge Frau mit weinerlichem Gesichtsausdruck, die ich nicht kenne, ist auch hier. Und Friederike und Kilian ebenfalls. Da sind auch noch mehr Leute, aber ich komme nicht dazu, mir alle anzuschauen, weil Bernie das Wort ergreift. »Haijooo«, sagt er dümmlich und bemüht sich, nicht grenzdebil zu grinsen, was ihm natürlich nicht gelingt.
»Na, jetzt geht’s aber los.« Friederike scheint sich zu freuen, dass endlich was passiert, und starrt mich erwartungsvoll an. Bestimmt will sie, dass ich eine Straftat im Straßenverkehr begehe. Kilian, der neben ihr steht, sieht auch ganz aufgeregt aus und wälzt in Gedanken wahrscheinlich schon Paragraphen. Goske kichert blöde vor sich hin und sagt gar nichts. Er sieht irgendwie schadenfroh aus. Annkathrin trägt immer noch oder schon wieder ihr Brautkleid aus Baisermasse. Sie sieht gutgelaunt, aber auch ein bisschen schuldbewusst aus. Alle bis auf die weinerliche Frau wirken sehr
ausgeglichen, so, als ob sie gerade einen ganz tollen Betriebsausflug an den Rhein hinter sich gebracht hätten, bei dem auch die Kultur nicht zu kurz kam (»Der Wein da, der ist aus dem Rheingau, und der Rheingau, das ist das Gebiet hier.«).
»Da bist du ja!«, ruft Annkathrin. »Das ist ja super. Ich hab gewusst, du würdest uns hier finden! Das ist eine Überraschung, was? Ich bin ja so glücklich!« Sie rennt völlig euphorisch auf mich zu und umarmt mich fest.
Ich stehe da und mache gar nichts.
»Oh, wie hübsch du aussiehst in dem Kleid«, geht es weiter. »Endlich mal so richtig weiblich.« Was meint sie denn nun damit schon wieder? Ach so, das Rotkäppchen-Kostüm. Werde ich das eigentlich jemals wieder ausziehen? Ich weiß zwar nicht, was an einer grobschlächtigen Tracht und einem Heißwasserkocher weiblich sein soll, mal ganz abgesehen von den derben Schuhen, aber ich sage immer noch nichts. Ich erwidere auch nicht die Umarmung. Weil ich nämlich
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