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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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füllte ein Glas mit der kristallisierten Schlacke ab, betrachtete die – wie sich zeigte – ganz runden Perlen unter dem Mikroskop und traute seinen Augen nicht. In der Vergrößerung zeigten die Kügelchen Einschlüsse in Gestalt verzerrter Interieurs der beiden verlorenen Häuser, und zwar so plastisch, daß er, hätte man sie noch stärker vergrößert, womöglich geglaubt hätte, die eröffneten Innenräume betreten zu können – und vielleicht nicht wiederzukehren. Schuppisser erzählte niemandem von seiner Entdeckung, da er nicht gern als verrückt galt. Immerhin wiederholte er die Beobachtung am nächsten Tag, und siehe: die Kügelchen waren trübe geworden und hatten sich dem Tuff oder Blähton angenähert, zu dem die Mauern verglüht waren. Übrigens: Moritz Asser, Achermanns Kompagnon und Freund, war am 24. November in New York gewesen. Sein Alibi war überprüft und nicht zu erschüttern.
    Gewiß doch: Sidonie Wirz war in den Bundesrat gewählt worden. Das ging in der Suppe schwarzer Sensationen fast gänzlich unter. Niemand schien es zu kümmern, daß sie um einen Lebensgefährten bangte, so lustvoll schlachtete man ihn schon aus – und tat sich bald auch bei ihr keinen Zwang mehr an.
    Man bedauerte sie, damit begann es. Das Verschwinden ihres Ehemannes vereitelte selbstverständlich die Rituale, mit denen die Republik neue Bundesräte im Amt befestigt, noch bevor sie es bekleiden: den Extrazug in ihren Kanton, den festlichen Empfang in dessen Hauptstadt, dann den herzlichen in der eigenen Gemeinde. Wäre Achermann in den Bergen verunglückt, selbst wenn er sich vor den Zug geworfen hätte: ein Wort wie «tragisch» wäre jedem gleich in den Mund gekommen. Nun aber war Hubert Achermann nichtsweiter als verschollen – allerdings unter mysteriösen Umständen, die damit angefangen hatten, daß er nicht dort gewesen war, wo man ihn erwarten durfte: an der Seite seiner Frau. Jetzt vermißte ihn sogar die Polizei. Da brauchte man keinen Unrat mehr zu wittern, man befand sich schon mittendrin. Und wonach roch es denn da?
    Jetzt folgte eine Enthüllung der anderen aus dem Privat-, sogar Intimbereich der Bundesrätin. Wenn ein Magazin skandalöser News ausgeschossen war, verlangte das entrüstete Publikum das nächste. Ereignisse, bei denen keine Ursachen auszumachen sind, schreien nach einem Schuldigen,
eine
Schuldige ist noch besser. Und siehe da: man brauchte nur ein wenig zu kratzen, nur in den eigenen Archiven zu graben, dann hatte Sidonie Wirz an Schuldhaftigkeit etwas zu bieten.
    Sie sollte am Jahresende in ihr Amt eingesetzt werden. Hätte sie gleich das Zepter ergreifen und die Dinge steuern können – sie hätten sich womöglich anders entwickelt. Jetzt aber standen ihr noch zehn Wochen des Stillhaltens bevor und wurden ihr zum Verhängnis. Von einer Bundesrätin wird erwartet, daß sie den Deckel über den Dämonen eines Landes verschließt. Kann sie das nicht, wird ihr nicht verziehen. Ihre Ehe mit dem Land war noch nicht vollzogen, da wurde sie schon zurückbuchstabiert.
    Die Treibjagd fing scheinbar teilnehmend an. Wie kam es, daß Sidonie vom asiatischen Begleiter ihres Mannes nichts wußte? Er war sein letzter Kontakt, und sie wollte ihn nicht kennen? Nicht einmal von diesem Kind auf dem Arm ihres Mannes wollte sie etwas wissen? Nichts wurde Sidonie intimer angekreidet als ein Kind, das niemand vermißte. Aber was jetzt nachkam, beschädigte ihre Person. Plötzlich hatte «WIR» Kunde von der Affäre Sidonies mit dem kürzlich verstorbenen Professor Fritz Walder. Ihr Ende wurde als «menschlicher Verzicht» dargestellt – damit man diesem Verzicht nicht nur kritisch auf die Finger sehen, sondern den Sachverhalt, den er zu beenden trachtete, in allen Einzelheiten ausbreiten konnte, eingeschlossen Frau Walders Tod. Die Folgerung für Sidonies Charakter durfte man einer mündigen Leserschaft überlassen.
    Sie hatte Achermann geheiratet – aus Liebe? War es nicht auffallend, daß sie ihm so wenig sichtbar nachtrauerte? War das Verhältnis zu Walder wirklich beendet gewesen, war er aus Kummer gestorben, oder war Achermann vielmehr aus Kummer untergetaucht über eine hartherzige, dabei grenzenlos karrieresüchtige Frau? Zum Nikolaustag folgte die scheinheilige Frage, wann sich Sidonie als geschändetes Kind
oute
. Ob es ihr genügt habe, ein für sie günstiges Testament «herauszuholen»? Es war die Küche der Doris Leu, Marybels Freundin, die ihr Gift zu sieden begann, und plötzlich hüllte

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