Scarpetta Factor
sich vor Augen, dass sie diese Situation nur ihm zu verdanken hatte und dass sie hätte vermieden werden können, wenn er auf ihren ersten Anruf vor drei Wochen reagiert hätte. Wäre er zu einem Gespräch bereit gewesen, hätte sie es nicht nötig gehabt, sich einen Plan zurechtzulegen, der sich inzwischen – zum Großteil war Lucy schuld daran – zu verselbständigen drohte. Es war niemals Bergers Absicht gewesen, Hap Judd wegen der angeblichen Vorgänge im Park General Hospital unter Anklage zu stellen. Außerdem traute sie diesem Helfer, Kiffer und Informanten namens Eric, dem sie noch nie begegnet war, geschweige denn je ein Wort mit ihm gewechselt hatte, nicht über den Weg. Marino hatte Eric befragt und ihr berichtet, er habe ihm vom Park General Hospital erzählt. Ja, seine Schilderung sei ziemlich erschreckend und möglicherweise belastend für Hap Judd. Allerdings war Berger hinter einem viel größeren Fisch her.
Hap Judd war Klient von Hannah Starrs hochangesehener und erfolgreicher Finanzberatungsagentur. Dennoch hatte er keinen Cent seines Vermögens bei dem krummen Deal verloren, den Berger bei sich als Ponzi-Trittbrettfahrer-Geschäft bezeichnete. Seine Rettung war gewesen, dass Hannah dem Vernehmen nach am 4. August dieses Jahres seine gesamten Aktienpakete abgestoßen hatte. Noch am selben Tag wurden exakt zwei Million Dollar auf sein Konto überwiesen. Seine ursprüngliche Einlage vor einem Jahr hatte etwa ein Viertel davon betragen und war niemals an der Börse, sondern in den Taschen eines Immobilieninvestors namens Bay Bridge Finance gelandet, dessen Geschäftsführer vor kurzem vom FBI wegen Veruntreuung festgenommen worden war. Hannah hatte die Ahnungslose gespielt und behauptet, nicht mehr über den Ponzi-Plan von Bay Bridge Finance zu wissen als die übrigen ehrlichen Geldinstitute, wohltätigen Organisationen und Banken, die Bernard Madoff und seinesgleichen zum Opfer gefallen waren. Vermutlich würde Hannah inzwischen erklären, sie sei genauso getäuscht worden wie so viele andere.
Doch Berger kaufte ihr das nicht ab. Der Zeitpunkt der Transaktion, die Hannah Starr für Hap Judd vorgenommen hatte – und zwar, ohne von ihm oder sonst jemandem dazu aufgefordert worden zu sein –, wies darauf hin, dass sie mit den Betrügern unter einer Decke steckte. Seit ihrem Verschwinden am Tag vor Thanksgiving wurden ihre Geschäftsunterlagen von der Polizei überprüft. Der bisherige Stand der Ermittlungen war, dass Hannah, Alleinerbin des Vermögens und der Unternehmen, die ihr verstorbener Vater Rupe Starr ihr hinterlassen hatte, ziemlich kreative Geschäftspraktiken an den Tag legte, insbesondere wenn es um die Rechnungsstellung an Klienten ging. Allerdings war das an sich nicht strafbar, und man hatte keine weiteren Auffälligkeiten entdeckt, bis Lucy auf die Überweisung von zwei Millionen Dollar auf Hap Judds Konto gestoßen war. Daraufhin hatte Berger sich mit anderen Anwälten und Analysten in der Ermittlungsabteilung ihrer Behörde, insbesondere dem Betrugsdezernat, zusammengetan und auch das FBI hinzugezogen.
Die Ermittlungen waren streng geheim, und es durfte auf keinen Fall etwas davon an die Öffentlichkeit dringen. Es hätte Berger nämlich gerade noch gefehlt, dass sich überall herumsprach, Hannah Starr sei ihrer Ansicht nach, anders als gemeinhin angenommen, nicht das Opfer eines Sexualmörders geworden. Falls wirklich ein gelbes Taxi eine Rolle spielte, hatte es sie aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem Flugplatz gebracht, wo sie, wie geplant, in eine Privatmaschine gestiegen war. Sie hätte an Thanksgiving tatsächlich in einer Gulfstream zuerst nach Miami und von dort aus nach Saint Barts fliegen sollen. Allerdings war sie nie dort angekommen, und zwar, weil sie andere, nämlich unlautere, Absichten verfolgte. Hannah Starr war eine Meisterbetrügerin, erfreute sich aller Wahrscheinlichkeit nach bester Gesundheit, befand sich auf der Flucht und hätte Hap Judd sicherlich nicht vor dem Bankrott gerettet, wenn ihr Interesse an ihm rein beruflicher Natur gewesen wäre. Sie hatte sich in ihren prominenten Kunden verliebt, weshalb er möglicherweise wusste, wo sie steckte.
»Sie haben bestimmt nicht damit gerechnet, dass Eric am Dienstag die Staatsanwaltschaft anruft und einem meiner Ermittler alles erzählt, was er von Ihnen gehört hat«, sagte Berger zu Judd.
Es wäre sehr hilfreich gewesen, wenn Marino zu dieser Vernehmung erschienen wäre, denn er hätte Erics Worte am
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