Scarpetta Factor
Scarpetta? Berger fragte sich, ob es mit dem verdächtigen Paket zusammenhing, das gestern für sie abgegeben worden war.
»Deshalb kann ich meine Rollen auch so überzeugend spielen. Ich habe nämlich keine Angst vor Schlangen oder Insekten«, sagte Judd zu Berger, die aufmerksam zuhörte und sich gleichzeitig mit ihren E-Mails beschäftigte. »Das heißt, ich könnte wie Gene Simmons eine Fledermaus in den Mund nehmen und Feuer spucken. Ich mache auch die meisten Stunts selbst. Mit ihr will ich nicht reden. Wenn ich mit ihr reden muss, gehe ich.« Er warf Lucy einen finsteren Blick zu.
Die zweite eingegangene E-Mail war von Scarpetta:
Wg.: Durchsuchungsbeschluss. Ausgehend von meiner Ausbildung und Erfahrung wird bei der Suche nach dem gestohlenen Datenträger ein Spurensicherungsexperte gebraucht.
Offenbar standen Marino und Scarpetta in Kontakt miteinander, auch wenn Berger keine Ahnung hatte, worum es sich bei dem gestohlenen Datenträger handelte und was durchsucht werden sollte. Außerdem verstand sie nicht, weshalb Scarpetta Marino nicht dieselbe Anweisung gegeben hatte, damit er den Spurensicherungsexperten im Entwurf des Durchsuchungsbeschlusses aufführen konnte. Stattdessen teilte Scarpetta Berger klipp und klar mit, dass eine Zivilperson, die sich mit Datenträgern wie beispielsweise Computern auskannte, an der Suche beteiligt werden musste. Im nächsten Moment fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Scarpetta wollte, dass Lucy vor Ort war, und bat Berger, dafür zu sorgen. Und aus irgendeinem Grund war es sehr wichtig.
»Die Sache in der Krankenhauspathologie war ja ein toller Stunt«, meinte Lucy zu Judd.
»Ich habe nichts angestellt.« Er sprach nur mit Berger. »Bloß Gerede. Ich habe gesagt, dass es vielleicht passieren könnte, zum Beispiel, als die Leute vom Bestattungsinstitut aufgekreuzt sind, weil sie wirklich hübsch und für jemanden mit so schweren Verletzungen ziemlich unversehrt war. Das war doch bloß so eine Art Witz, obwohl ich mich manchmal wirklich frage, was in Bestattungsinstituten so passiert. Das ist die Wahrheit. Einige Typen, denen ich begegnet bin, fand ich nämlich ziemlich verdächtig. Ich glaube, die Leute treiben alles Mögliche, wenn sie damit ungeschoren davonkommen.«
»Dieses Zitat merke ich mir«, entgegnete Lucy. »Hap Judd denkt, dass Menschen alles tun, womit sie ungeschoren davonkommen. Eine prima Schlagzeile für Yahoo.«
»Vielleicht solltest du ihm jetzt zeigen, worauf wir gestoßen sind«, schlug Berger vor. »Sie haben bestimmt schon von künstlicher Intelligenz gehört«, wandte sie sich an Judd. »Das hier ist noch eine Stufe höher. Vermutlich waren Sie nicht neugierig, warum wir Sie hierher gebeten haben.«
»Hierher?« Verständnislosigkeit malte sich auf seinem ebenmäßigen Gesicht, als er sich im Raum umschaute.
»Sie haben die Uhrzeit bestimmt, ich den Treffpunkt, und zwar dieses hochtechnisierte und minimalistisch eingerichtete Büro«, fuhr Berger fort. »Sehen Sie die vielen Computer? Sie befinden sich in einer Firma, die forensische Computerermittlungen durchführt.«
Er zuckte nicht mit der Wimper.
»Deshalb habe ich beschlossen, Sie hierher zu bestellen. Und um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen: Lucy ist als Beraterin in Ermittlungsfragen im Auftrag der Staatsanwaltschaft tätig, verfügt jedoch über viele weitere Talente. Sie war früher beim FBI und bei der ATF. Doch ich möchte Sie nicht mit ihrem Lebenslauf langweilen, da das zu lange dauern würde. Allerdings liegen Sie mit Ihrer Behauptung, sie sei keine echte Polizistin, nicht ganz richtig.«
Er schien immer noch nicht zu begreifen.
»Wir wollen uns noch einmal mit Ihrer Tätigkeit im Park General Hospital befassen«, sprach Berger weiter.
»Ich kann mich wirklich kaum noch an die Situation erinnern.«
»Welche Situation?«, hakte Berger nach. Ihr Tonfall war so ruhig, dass Lucy ihn oft mit einem Mühlteich verglich. Nur dass sie das nicht als Kompliment meinte.
»Das Mädchen«, erwiderte er.
»Farrah Lacy«, entgegnete Berger.
»Ja, das heißt, nein. Ich tue ja mein Bestes, aber es ist schon so lange her.«
»Das ist der Vorteil von Computern«, verkündete Berger. »Sie kümmert es nicht, wie lange ein Ereignis zurückliegt. Insbesondere Lucys Computer, ihre neuralen Netzwerkanwendungen, eine Programmierung, die das menschliche Gehirn nachahmt. Dann wollen wir Ihrem Gedächtnis, was die ferne Vergangenheit im Park General Hospital angeht, einmal auf die
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