Scarpetta Factor
Und tu nicht nur so als ob. Das durchschaue ich nämlich, auch wenn ich den Mund halte. Wir sitzen alle in einem Boot.«
»Eine große, glückliche Familie«, spottete Benton.
»Genau das habe ich gemeint. Ich habe genug von deiner Feinseligkeit und deiner Eifersucht.«
»Trink einen Schluck. Dann geht es dir gleich besser.« »Deine Gönnerhaftigkeit kannst du dir ebenfalls sparen, denn sie macht mich wütend.« Wieder zitterte ihre Stimme.
»Ich bin nicht gönnerhaft, Kay. Außerdem bist du bereits wütend«, fügte er leise hinzu. »Du bist schon seit langer Zeit wütend.«
»Ich fühle mich von dir gönnerhaft behandelt, und dass ich schon seit langer Zeit wütend bin, stimmt nicht. Wie kannst du so etwas behaupten? Du willst mich nur provozieren.« Scarpetta hatte keine Lust auf einen Streit, weil sie Auseinandersetzungen generell verabscheute. Allerdings trug sie auch ihren Teil dazu bei.
»Es tut mir leid, dass du es so empfindest. Ich wollte nicht gönnerhaft sein, wirklich nicht. Und deine Wut mache ich dir nicht zum Vorwurf.« Er trank einen Schluck, starrte auf sein Glas und klapperte mit den Eiswürfeln. »Außerdem möchte ich dich auf keinen Fall provozieren.«
»Das Problem ist, dass du nicht in der Lage bist, zu verzeihen und zu vergessen. Deswegen auch dein Konflikt mit Marino. Du kannst ihm nicht vergeben und bist nicht bereit, die Vergangenheit ruhenzulassen. Soll das etwa die Lösung sein? Was geschehen ist, kann man nicht mehr rückgängig machen. Er war betrunken, stand unter Drogeneinfluss und war nicht Herr seiner Sinne. Deshalb hat er etwas getan, das er nicht hätte tun sollen. So viel steht fest. Wenn jemand ein Recht hat, nachtragend zu sein, dann ja wohl ich. Immerhin ist er mir gegenüber gewalttätig geworden, verdammt. Doch das ist vorbei. Er bereut es. Es tut ihm sogar so leid, dass er mir aus dem Weg geht. Wochenlang höre ich kein Wort von ihm. Wenn er mit mir oder mit uns beiden zusammen ist, benimmt er sich übertrieben höflich, überschlägt sich fast, um dich mit einzubeziehen, und verhält sich beinahe unterwürfig. Dadurch wird die Situation noch beklemmender. Wir werden die Sache nie überwinden, solange du dich dagegen sperrst. Alles hängt nur von dir ab.«
»Stimmt. Ich kann es nicht vergessen«, erwiderte Benton mit finsterer Miene.
»Das ist nicht gerade logisch, wenn du bedenkst, was andere Menschen vergeben und vergessen mussten«, entgegnete Scarpetta so zornig, dass es ihr selbst Angst machte. Sie fühlte sich, als würde sie jeden Moment explodieren wie das sichergestellte Paket.
Bentons haselnussbraune Augen musterten sie forschend. Er saß reglos da und wartete ab, was nun geschehen würde.
»Insbesondere Marino und Lucy, die du zur Heimlichtuerei gezwungen hast. Für mich war es schon schlimm genug, doch ihnen gegenüber war es unfair, dass du sie verpflichtet hast, für dich zu lügen. Nicht dass ich in der Vergangenheit herumwühlen will.« Doch sie konnte es nicht verhindern, dass ebendiese Vergangenheit ihr in der Kehle hochstieg. Sie schluckte und versuchte sie zurückzudrängen, bevor sie sich über ihr und Bentons gemeinsames Leben ergoss.
Er betrachtete sie. In seinen Augen lag ein unendlich weicher und trauriger Ausdruck. Schweiß sammelte sich an seiner Kehle, verschwand in seinem silbergrauen Brusthaar, rann seinen Bauch hinab und durchweichte das Taillenbündchen seiner grauen Pyjamahose aus Viskose, die sie ihm geschenkt hatte. Er war schlank und durchtrainiert. Seine Muskeln und seine Haut waren straff. Ein bemerkenswert schöner Mann. Im Badezimmer war es nach der langen Dusche, die nichts dagegen ausgerichtet hatte, dass sie sich verseucht, schmutzig und albern vorkam, schwül wie in einem Gewächshaus. Es gelang ihr einfach nicht, den merkwürdigen Gestank des Pakets, Carley Crispins Sendung, das Schriftband von CNN und all die anderen unangenehmen Dinge wegzuwaschen, und sie fühlte sich machtlos.
»Nun, hast du dazu nichts zu sagen?« Ihre Stimme zitterte stark.
»Du weißt, woran es liegt.« Er stand vom Hocker auf.
»Ich möchte nicht mit dir streiten.« Tränen traten ihr in die Augen. »Bestimmt bin ich nur müde. Mehr nicht. Ich bin müde. Es tut mir leid, dass ich so müde bin.«
»Der Geruchssinn gehört zu den ältesten Teilen unseres Gehirns und sendet Informationen, die Gefühle, Erinnerungen und Verhalten steuern.« Er trat hinter Scarpetta und schlang die Arme um sie. Sie blickten beide in den beschlagenen Spiegel.
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