Scatterheart
sich, was Long Meg einmal über James gesagt hatte.
Eins weiß ich mit Sicherheit. Dieser Leutnant Belforte ist kein Gentleman
.
»Ich möchte sie besuchen«, sagte Hannah und versuchte sich loszumachen.
James fasste sie fester um die Hüfte. »Morgen. Morgen können Sie sie besuchen. Heute Nacht soll sie sich ausruhen. Komm, tanzen wir. Die Sterne funkeln, wir sind jung. Sie sollten fröhlich sein, Hannah.«
Hannah blickte zum Himmel hinauf und suchte das glühende Auge des Großen Bären. Sie drehte den Kopf hin und her, aber sie konnte es nirgendwo entdecken.
»Der Bär …«, sagte sie. Ihr wurde schwindelig vom Tanzen. »Ich sehe ihn nicht.«
James lachte. »Der Bär ist weg«, antwortete er. »In diesem Teil der Welt gibt es keine Bären.« Er drehte sie so schnell im Kreis, dass Hannahs Sicht verschwamm.
»Wie ist das möglich? Das ist doch ein Stern …«
»Wir haben gerade den Äquator überquert«, sagte James lachend und drückte sie an sich. Er stank nach Rum und Seetang. »In der südlichen Hemisphäre gibt es andere Sterne. Haben Sie die Veränderung nicht bemerkt?«
Hannah stemmte die Füße gegen den Boden und wand sich aus seiner Umarmung. Aber ihr war so schwindelig, dass das Schiff sich weiter um sie zu drehen schien. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel auf das Deck.
Sie kniff die Augen zu, damit das Kreiseln aufhörte, und kroch auf allen vieren davon. Dabei rempelte sie jemanden an, der sie wieder auf die Füße zerrte.
Sie schaute hoch und starrte direkt in das Gesicht von Davy Jones. In seinem Mund steckte eine glimmende Zigarre, von der lange Rauchkringel aufstiegen – das glühende Auge, das sie zuvor gesehen hatte. Er griff mit der Hand an seinen Mund und zog grinsend die Zigarre heraus. Hannah erhaschte einen Blick auf seine Zähne, die von schwarzem Speichel verfärbt waren.
Hinter ihm stand Molly, ihr Gesicht eine Maske des Grauens.
»Dr. Fell«, wimmerte sie.
Hannah packte Molly an der Hand und sie rannten zu dem Niedergang, der zum Unterdeck führte. Sie hastetendurch die Gänge mit den niedrigen Balkendecken, bis sie zu James’ Kabine kamen.
Die Tür war zu. Hannah stand keuchend davor und starrte sie an. Sie traute sich nicht sie zu öffnen, aus Angst, was sie drinnen vorfinden könnte.
Molly klammerte sich an ihre Hand. Hannah fasste an die Klinke, drückte sie herunter und machte die Tür auf. Die Kabine war leer. Auf dem Bett lagen ein ordentlich gefaltetes Hemd und eine Kniehose. Hannah schloss einen Moment die Augen. Dann schaute sie Molly an.
»Wir müssen hinunter und nachsehen«, sagte sie.
Molly schüttelte heftig den Kopf. »Nein, da geh ich nie mehr hin.«
Hannah nickte. »Dann husch schnell wieder ins Bett. Ich komme gleich nach. Aber sei bloß vorsichtig.« Sie holte tief Luft und machte sich auf den Weg zum Zimmer des Doktors.
Als sie Long Meg entdeckte, schien jegliche Empfindung aus ihr zu weichen.
Sie glaubte, weinen oder kotzen oder toben zu müssen. Aber sie fühlte sich nur wie betäubt.
Megs nackter Körper lag ausgestreckt auf dem Operationstisch, bleich und leblos. Einen Augenblick lang empfand Hannah eine vage Faszination, als sie Megs vollen, weichen Busen und das Dreieck von dunklen Haaren zwischen ihren Beinen sah.
Dann dachte sie an James.
Eins weiß ich mit Sicherheit. Dieser Leutnant Belforte ist kein Gentleman
.
Megs Kopf war zur Seite gerollt und ihre Augen starrten blind an die Wand. Zu den beiden Schnittwunden auf ihren Wangen waren Dutzende weiterer Schnitte gekommen, die ihren weißen, kalten Körper bedeckten. Ihre Hände hingen schlaff zur Seite. Ihre Beine waren leicht nach innen gekehrt, sodass sich ihre großen Zehen berührten. Auf ihrem Hals waren schwarze Abdrücke, bei deren Anblick Hannah an Dr. Ullathornes lange weiße Finger denken musste. Sie dachte auch an James’ zarte Hände und seine gepflegten, weißen Halbmondnägel.
Sie trat neben den Tisch und strich sanft über Megs Haarstoppeln. Sie berührte ihre grauen Lippen und schloss ihre blicklosen Augen. Sie meinte etwas sagen zu müssen, aber sie war leer. Als hätte jemand ihr Inneres ausgehöhlt, leer wie eine Muschelschale oder eine Porzellanpuppe.
Scatterheart wanderte durch den glühenden Wüstensand, bis sie benommen und erschöpft zusammenbrach.
Zwei Tage nach der Äquatorüberquerung und nach drei Monaten auf See geriet die
Derby Ram
in eine Flaute. Das Schiff kroch dahin und blieb schließlich stehen. Kein Wind regte sich in diesem Teil des
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