Scatterheart
Ozeans. Es gab zwar aus verschiedenen Richtungen leichte Luftströmungen, doch die reichten nicht aus, das Schiff in Bewegung zu setzen. Die Besatzung lungerte untätig herum und wartete auf eine Brise, die sie sich zunutze machen konnte.
Es war heiß, unvorstellbar heiß. Die Hitze drückte auf das Schiff wie eine feuchte Wolldecke, die alles und jeden erstickte. Die Gesichter der Menschen wurden rot und rissig. Die Lippen sprangen auf und bekamen Brandblasen. Die Offiziere entledigten sich ihrer schweren, dunklen Wolljacken und gingen in Hemdsärmeln zum Dienst. Die Matrosen, die gewöhnlich barfuß und mit nacktemOberkörper arbeiteten, deckten Rücken und Füße ab, um sie vor der unbarmherzigen Sonne zu schützen.
Die Segel wurden gelockert und hingen schlaff an den Masten. Kleine Wellen klatschten gegen den Rumpf und brachten das Schiff in Übelkeit erregende Schaukelbewegungen, die ganz anders waren als das gleichmäßige Rollen unter vollen Segeln.
Hannah kauerte sich auf ihrem Bett zusammen. Ihr war schwindelig, sie hatte keinen Appetit und bei jedem Versuch, etwas zu essen, rebellierte ihr Magen und sie musste erbrechen.
Molly hatte sich angewöhnt in Long Megs Bett zu schlafen. Jeden Morgen holte sie Megs Löffel und kratzte eine neue Kerbe in das Brett über dem Bett. Dann legte sie sich wieder hin, sah zu Hannah hinüber und wartete, dass diese etwas sagte.
»Warum redest du nicht über Long Meg?«, fragte sie eines Morgens.
Hannah reagierte nicht. Sie konnte nicht darüber sprechen. Sie wusste, wenn sie nur Megs Namen ausspräche, würde sich ihre Taubheit auflösen und sie würde zusammenbrechen. Molly schaute sie aus ihrem gesunden Auge groß an.
»Wieso vermisst sie niemand?«
Hannah schwieg.
Molly seufzte und ging zu einem anderen Schlafplatz, wo Cathy mit Patty, einer missgelaunten Rothaarigen, undSusan, einer pummeligen Frau mit Hasenscharte, lustlos eine Partie Rommé spielte.
»Vermisst ihr Long Meg nicht?«, hörte Hannah sie fragen. Cathy drehte sich zu Molly um.
»Halt den Mund«, fuhr sie sie giftig an. »Sie kommt nicht wieder.«
Molly runzelte die Stirn. Ihre glänzende Haut knitterte wie Papier.
»Das weiß ich«, sagte sie, »aber warum sprechen wir nicht über sie? Warum erinnern wir uns nicht an sie?«
Patty sah sie böse an und legte ihre Karten ab.
»Weil wir sonst noch genauso enden.«
Hannah dachte daran, wie Long Meg zu Beginn der Reise die Offiziere gereizt hatte. Einmal war sie mit schreckverzerrtem Gesicht zu einem hingerannt und hatte geschrien: »Sir! Oh, Sir! Helfen Sie mir! Da ist was hinter mir her! Etwas Großes, Weißes! Es folgt mir ständig, egal, wohin ich geh!«
Der Offizier verdrehte die Augen.
»Was denn, Meg?«
Und plötzlich verschwand ihr entsetzter Gesichtsausdruck und sie brüllte lachend: »Mein Arsch!«
Hannah sprach über eine Woche lang mit keiner Menschenseele.
Die wenigen Male, die sie ihr Bett verließ, um ihre karge Wasserration in Empfang zu nehmen, hielt sie ständigden Kopf gesenkt, um ja nicht James sehen zu müssen. Sie brachte es nicht fertig, an ihn zu denken, an sein hübsches Gesicht, seine sanften Hände, seine wohltönende Stimme. Dies war alles so weit entfernt von ihrem Bild von Long Meg, wie sie kalt und still im Behandlungszimmer von Dr. Ullathorne lag.
Natürlich hatte James nichts damit zu tun. Bestimmt nicht. Er war ein Gentleman.
Aber dann dachte sie an den James, der beim Tanzen lachend Megs Mantel getragen hatte, und an seine vom Alkohol geröteten Wangen.
Hannah erinnerte sich, wie ihr Vater ihr den Mantel geschenkt hatte. Er hatte in einer weißen Schachtel gelegen, in blassrosa Seidenpapier eingeschlagen und mit Rosenwasser besprenkelt.
Nach einer Woche waren die Wasservorräte fast aufgebraucht. Hannahs Mund trocknete aus und sie hatte einen fauligen Geschmack auf der geschwollenen Zunge. Das Zahnfleisch war schmerzhaft entzündet. Bei jeder Bewegung floss der Schweiß in Strömen.
Alles – Stoffe, Leder und Lebensmittel – wurde feucht und überzog sich mit einer weißgrünen Schimmelschicht. Die Matratzen und Decken waren klamm, die Blechnäpfe und Löffel rosteten und nach zehn Tagen waren den Männern lange Bärte gewachsen, da ihre Rasiermesser unbrauchbar geworden waren.
Das Schiff trieb träge im stillen Ozean, umgeben von einer Abwasserlache. Und über allem hing der Gestank von Jauche und vergammeltem Essen. In dem fauligen Wasser gediehen seltsame, milchig grüne Algen, die sich immer
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