Schachfigur im Zeitspiel
zu ihr, zu Loris’ Mutter. Die majestätische, weißhaarige alte Frau, die langsam und ruhig den Raum durchquerte, fort von dem Quader. Das Gesicht in Falten und erstarrt in Kummer. Die Mutter der Mutter Oberin …
Die Mutter von ihnen allen!
Am Aufzug hielt sie an und drehte sich halb um. Sie machte eine schwache Handbewegung, die sie alle umfaßte. Sie grüßte sie. Ihre Kinder.
Es war eindeutig. Helmar, Loris, all die anderen, alle siebzig oder achtzig Menschen, stammten von dieser alter Dame und von dem Mann ab, der in dem Quader lag. Doch eines paßte nicht.
Der Mann im Quader und diese alte Frau. Wenn sie Mann und Frau waren …
»Ich bin froh, daß du sie gesehen hast«, sagte Loris neben ihm.
»Ja«, sagte er.
»Hast du gesehen, wie sie es aufgenommen hat? Sie war uns eine Inspiration in unserem Verlust. Ein Vorbild, dessem Beispiel wir folgen werden.« Jetzt schien auch Loris ihre Fassung zurückgewonnen zu haben.
»Gut«, murmelte Parsons. Die Gedanken rasten durch seinen Verstand. Die alte Frau und der Mann im Quader. Corith hatte sie ihn genannt. Corith – der Vater all dieser Menschen. Das ergab einen Sinn. Alles ergab einen Sinn – bis auf eines. Und an diesem einen war schwer vorbeizukommen.
Sowohl Corith als auch die alte Frau, seine Ehefrau, wiesen identische körperliche Merkmale auf.
»Was ist los?« fragte Loris. »Stimmt irgend etwas nicht?«
Parsons schüttelte sich und zwang seine Gedanken wieder in die Realität zurück. »Ich habe Schwierigkeiten damit«, sagte er, »daß er wieder getötet wurde – und auf dieselbe Art und Weise.«
»Es geschieht immer so«, sagte Loris, »immer auf dieselbe Art und Weise: mit einem durch sein Herz getriebenen Pfeil, der ihn sofort tötet.«
»Keine Abweichung?«
»Keine von Bedeutung.«
Er sagte: »Wann ist es passiert?« Der Sinn seiner Frage schien ihr nicht klar zu sein. »Der Pfeil«, sagte er. »In dieser Zeitperiode sind keine derartigen Waffen im Gebrauch, oder? Ich nehme an, es ist in der Vergangenheit passiert.«
»Das stimmt«, gab sie mit einem Kopfnicken zu. »Unsere Arbeit mit der Zeit, unsere Erkundigungen …«
»Dann habt ihr die Zeitreise-Ausrüstung schon vorher gehabt«, sagte er. »Vor seinem Tod.«
Sie nickte.
Parsons fuhr fort: »Schon vor mindestens fünfunddreißig Jahren. Vor deiner Geburt.«
»Wir sind schon lange damit vertraut.«
»Warum? Was habt ihr vor?« Er schleuderte ihr die Fragen entgegen, zwang sie ihr auf. »Was ist das für ein Plan, den ihr alle habt? Sag es mir. Wenn ihr von mir erwartet, daß ich euch helfe …«
»Wir erwarten nicht von dir, daß du uns hilfst«, sagte sie bitter. »Es gibt nichts, was du für uns tun kannst. Wir werden dich zurückschicken. Deine Mission ist zu Ende. Es gibt keine weitere Aufgabe mehr für dich.« Sie ließ ihn stehen und ging davon, den Kopf geneigt, versunken in der Betrachtung der Katastrophe, die über sie alle hereingebrochen war.
Die ganze Familie, dachte Parsons, als er ihr nachblickte, wie sie sich an den anderen vorbeischlängelte. Brüder und Schwestern. Aber das erklärte noch immer nicht die körperliche Ähnlichkeit zwischen Corith und seiner Frau; die Sache mußte auf eine andere Ebene zurückgeführt werden.
Und dann sah er etwas, das ihn bewegungslos erstarren ließ. Dieses Mal war er der einzige, der es gesehen hatte. Die anderen waren zu sehr in ihre Probleme eingehüllt. Nicht einmal Loris hatte es bemerkt.
Das hier war das fehlende Element. Der grundlegende Hinweis, der gefehlt hatte.
Sie stand im Schatten ganz am Rande des Zimmers. Kaum auszumachen. Sie war mit der anderen alten Frau, Loris’ Mutter, heraufgekommen. Aber sie trat nicht aus der Dunkelheit heraus. Sie hielt sich versteckt und hatte alles, was geschehen war, von ihrem geheimen Ort aus beobachtet.
Sie war unglaublich alt. Ein winziges, zusammengeschrumpftes Etwas. Ergraut und gebeugt, klauenartige Hände, Besenstielbeine unter dem Saum ihres dunklen Kleides. Ein vertrocknetes kleines Vogelgesicht, runzlige Haut, die wie Pergament aussah. Zwei getrübte Augen, tief in die vergilbende Haut eingesunken, eine Strähne von weißem Haar wie ein Spinnennetz.
»Sie ist vollkommen taub«, sagte Helmar leise dicht neben ihm. »Und fast blind.«
Parsons zuckte zusammen. »Wer ist sie?«
»Sie ist fast ein Jahrhundert alt. Sie war die erste. Die allererste.« Helmars Stimme brach vor Rührung. Er zitterte sichtbar im Griff der tief verwurzelten Empfindungen, die durch
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