Schädelrose
politische
Verbindungen bewerkstelligen können, aber er würde es
garantiert nicht tun. Ein Freund? Es gab keine mit derartigen
Verbindungen zum Datennetz, oder jedenfalls keine, die ihr helfen
würden. In den letzten Jahren hatte sie sich kaum um ihre
Freunde gekümmert. Sie gehörten zu einer abgelegten
Vergangenheit, einer Vergangenheit, in der Catherine gesprochen,
gelernt, gelacht, gelebt hatte…
Caroline zog sich Jeans und einen warmen Pullover an und
packte ihre Tasche. Zwanzig Minuten später klingelte das
Telefon.
»Caroline? Schreib dir diese Zahlen auf. Das sind die
Telefonnummer und die Luftkoordinaten.« Joes Stimme, die
ihr die Zahlen durchgab, war gepreßt und abgehackt.
»Er ist in einem Ort namens Sanderton – da
gibt’s keine richtige Stadt – in Wyoming. In der
Nähe der Wind River Mountains. Im Rock End Motel.«
Ihre eigene Handschrift sah fahrig und fremd aus. Sie wollte
sich bedanken, aber er schnitt ihr das Wort ab. »Woher hat
Brekke gewußt, wo du bist? Hast du mit ihm gesprochen,
nachdem er das Institut vor zwei Tagen verlassen hat und bevor du
das mit Catherine erfahren hast?«
»Nein. Er hat im Institut angerufen, und die haben ihm
gesagt, ich wäre zur… zu Catherines Heim abgereist.
Aber ich habe keine Ahnung, woher er auch nur wußte, in
welcher Stadt das ist. Wieso?«
»Ist das die Wahrheit, Caroline?«
»Ja!«
»Dann weißt du auch nicht, woher er die
Kontonummer hatte, mit der er dich aus Wyoming angerufen
hat?«
»Woher er sie hatte? Was meinst du damit? War es nicht
seine?«
»Nein.«
»Wessen Nummer war es?« Die von Paul
Winter, dachte sie. Aber nein – Paul Winter war schon
lange tot, seine Nummer war deaktiviert. »Sag
schon.«
»Meine«, sagte Joe.
Sie bemühte sich, das zu verstehen. »Du hast sie
ihm nicht gegeben?«
»Natürlich nicht.«
»Er stiehlt.«
»Aber nicht meine Kontonummer. So unvorsichtig bin ich
nicht, und er ist nicht so gut. Und wenn er für jemanden
arbeitet, der so gut ist, dann bin ich viel zu unwichtig, als
daß er sich mit mir abgeben würde.«
»Aber wie…«
»Es würde dir nichts nützen, ihn jetzt
anzurufen, Caroline. Wir haben’s versucht. Die Leitung ist
tot. Nicht bloß deaktiviert – tot. Er hat
entweder das Telefon ausgesteckt oder das Kabel durchgeschnitten.
Und an der Rezeption des Motels geht niemand ran.«
»>Wir Wer ist >wir Wem hast du von
Robbie erzählt!«
»Ich hab dir die Telefonnummer für den Fall
gegeben, daß er beschließt, den Apparat wieder
einzustecken. Du kannst es also weiter versuchen.«
Sie zuckte bei seinem Ton zusammen. »Danke, Joe«,
sagte sie demütig und widerwillig. »Ich weiß,
was dich das kosten muß…«
»Du weißt nicht, was irgendwas kostet«,
sagte Joe und unterbrach die Verbindung.
Caroline preßte beide Hände an die Stirn. Einen
Augenblick später hatte sie das Wandterminal eingeschaltet,
für unbeschränkten Zugriff auf die Bibliothek bezahlt
und war dabei, Karten durchzusehen. Sanderton, Wyoming, hatte
zweiunddreißig registrierte Einwohner. Der nächste
Flughafen war Lander. Sie wählte die Chartergesellschaft an,
mit der Colin immer geflogen war, und gab ihre Kreditdaten
ein.
Wie war Robbie an die von Joe gekommen?
Es war unwichtig. Was sollte daran so wichtig sein? Was immer
Robbie sein mochte, er war real und lebendig, im Gegensatz zu
Catherine. Die Vergangenheit ist tot, hatten sowohl Joe
als auch Patrick mit ihren unterschiedlichen Stimmen zu ihr
gesagt: Joes kalte Vernunft, die ihn zum einsamsten Menschen
machte, den sie je gesehen hatte, und Shahids gequälte
Sehnsucht nach einem Gott, den er nirgends anders sehen konnte.
Und beide hatten sie recht und unrecht zugleich gehabt. Catherine
war tot für sie, Linyi und ihre Kinder waren tot für
sie, selbst der schlafende Timmy mit seinen bißchen
Ohrenschmerzen war seit Juni 1976 tot. Aber etwas von der
Vergangenheit war ihr geblieben. Robbie, der durch die Erinnerung
mit Timmy und dadurch auch mit ihr verbunden war, war am Leben
und in Schwierigkeiten, und er brauchte ihre Hilfe.
Wo endeten die Bande der Mutterschaft? Alle Kinder wurden
groß, änderten sich, wurden andere Menschen. Eltern,
die davor zitterten, ein zahnlückiges kleines Kind bei einem
schrecklichen Unfall zu verlieren, verloren es schließlich
doch immer – an die Zeit. Die kleinen Kinder starben
irgendwann, und was blieb, war ein Band mit einem weiteren
Erwachsenen, der früher
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