Schädelrose
ganz recht. Das hast du. Aber der Teufel soll mich holen, wenn
ich mich deswegen bei der Beerdigung meiner Tochter schuldig
fühlen soll.«
»Callie, Callie – ich will doch nicht, daß
du dich schuldig fühlst. Das habe ich nie gewollt. Ich
wollte dir helfen. Bitte – laß mich
helfen.«
»Schon ziemlich gut, Colin. Aber du darfst die Stimme
mittendrin nicht ganz so stark brechen lassen.«
Er schwieg so lange, daß die Leute, die anfangs
nähergetreten waren und sich beim Klang der zornigen Worte
zwischen Vater und Tochter abgewandt hatten, erneut näher
kamen. Bevor jemand wirklich bei ihnen sein konnte, sagte er
leise: »Du wirst nie zulassen, daß ich dir helfe,
nicht wahr? Bei irgend etwas. Das wäre zuviel der
Vergebung.«
»O Gott, erspar mir die Schlußzeilen nach dem
dritten Akt.«
Sein Gesicht machte etwas Kompliziertes. Caroline merkte, wie
eine Hand an ihrer Schulter zerrte. Charles drehte sie grob zu
sich herum. Beim Anblick seiner roten Augen, der tiefen Linien,
die von seiner Nase zu seinem Kinn liefen, sagte Caroline leise:
»Charles – tut mir leid, daß ich dir deine
Beerdigung verdorben habe, Charles.«
Wut sprang in seine Augen. Er glaubte, daß sie sich
über ihn lustig machte. Colin dagegen, über den sie
sich wirklich lustig machte, stand da und sah sie mit so
viel sanftem Verständnis in den Augen an, daß sie ihn
am liebsten geschlagen hätte, daß sie am liebsten
gefaucht und gekratzt und gebissen hätte. Alles
fort.
Charles sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Ich
will Catherines Asche haben. Um sie zu behalten.«
»Ja.«
»>Ja Einfach so? Du gibst sie mir?«
»Ja.«
»Warum?«
Etwas zerbrach. Caroline griff zum letztenmal nach Linyi
hinaus. Sie wußte, daß es das letzte Mal war…
der Hof, die Flöte, das Lachen der Kinder… Es war
fort. Kalt. Tot.
»Weil das nicht Catherine ist. Es ist seit Jahren nicht
mehr Catherine gewesen. Nicht ohne ihr Gedächtnis, ihren
Geist – nimm die Asche, Charles. Ich will sie nicht. Colin,
laß mich los!«
»Callie – laß mich helfen…«
Sie entfernte sich von der Kirche. Ihre Absätze
hämmerten auf den Steinweg. Jason sah sie kommen und machte
die Tür des Luftwagens auf. Hinter ihr waren Schritte zu
hören, aber sie drehte sich nicht um. In dem Moment, als sie
beim Wagen ankam, legte ihr Patrick Shahid den Arm um die
Schultern. Dazu mußte er nach oben langen; Caroline legte
ihre Wange auf seinen Kopf. Jason wandte sich höflich
ab.
»Ich hab Sie da drin nicht gesehen, Patrick«,
sagte sie leise.
»Ich bin spät gekommen und habe mich hinten
hingesetzt.«
»Sie sind fort.«
»Wer, Caroline?«
»Die Erinnerungen.«
»Woran?«
»An frühere Leben. Und an Catherine. Sie sind da,
aber ich kann nicht an sie heran.«
Shahid zog sie in den Wagen. Zu Jason sagte er:
»Kommen Sie in zehn Minuten wieder.« Jason nickte
und verschwand. Caroline erkannte zum erstenmal, daß Shahid
irgendwann in seinem unbekannten Leben in Pakistan an Diener und
ans Befehlen gewöhnt gewesen sein mußte. Diesen
natürlichen Tonfall mußte man früh erlernen,
sonst klang es immer bemüht.
»Was meinen Sie damit, daß Sie nicht an die
Erinnerungen herankönnen?« fragte er.
»Es ist, als ob sie jemand anders erlebt hätte. Sie
sind kalt, Patrick. Sie sind fort.«
»Sie meinen, die Fluchtmöglichkeit, die sie ihnen
boten, ist fort.« Sie antwortete nicht. »Aber das
hätten sie gar nicht erst sein sollen, Caroline, das wissen
Sie. Es war nur ihr Bedürfnis, das die Erinnerung zu einer
Fluchtmöglichkeit gemacht hat.«
»Und was, zum Teufel, soll ich jetzt mit diesem
dämlichen sogenannten Bedürfnis machen?«
Er antwortete nicht direkt. »Wo wollen Sie mit dem
Luftwagen hin?«
»Weiß ich nicht. Ins Institut zurück, nehme
ich an.«
Shahid betrachtete ihr schwarzes Kleid und das schwarze
Stirnband. »Wo ist Ihr Gepäck?«
»Hier. Im Gästehaus des Heims. Ich hätte noch
eine Nacht bleiben sollen. Sie können sich nicht operieren
lassen, weil Sie Katholik sind, stimmt’s? Weil der Papst es
verboten hat.«
Shahid schaute geradeaus. »Es gibt nur eine
Wiedergeburt, und zwar in Jesus Christus.«
»O Patrick. Ach, zum Teufel. Sie wollen es doch so sehr,
daß man’s schon fast körperlich
spürt.«
Shahid antwortete nicht. Durchs Fenster sah Caroline, wie
Jason jeden abfing und höflich wegschickte, der sich dem
Wagen nähern wollte. Gewissenhaft, effektiv. Caroline
zündete sich
Weitere Kostenlose Bücher