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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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einmal das geliebte Kind gewesen
war. Machte es wirklich so einen großen Unterschied, ob das
Kind – Fleisch vom eigenen Fleisch, Knochen vom eigenen
Knochen – vor zwanzig oder vor fünfundfünfzig
Jahren gelebt hatte? War es von Bedeutung, ob die starke
Mutterliebe – das ist mein Kind, für das ich
sterben würde – vor einer oder vor drei
Generationen geschmiedet worden war? Die emotionale Zeit war
flexibler, als sie es sich je hätte träumen lassen.
    Das Terminal meldete sich zwei Minuten, nachdem sie eingetippt
hatte: »Dringend – bezahle dreifachen Preis für
absoluten Vorrang.« Eine menschliche Stimme, kein Computer,
und das um halb vier Uhr morgens; ein respektvolles menschliches
Gesicht, und das bei den Preisen für eine Übertragung
in Vollfarbe. Caroline charterte ein Flugzeug und einen Piloten,
einen Luftwagen, der von Rawlins eingeflogen werden würde,
und einen Fahrer, der das Terrain in Wyoming kannte.

 
14.
JOE
     
    Um zwei Uhr morgens hatte das Telefon zum erstenmal
geklingelt. Joe war aus einem unruhigen Schlaf hochgeschreckt und
hatte zuerst an Caroline, dann an Pirelli und dann an Robin
gedacht. Wenn Caroline ihn aus Albany anrief, weil sie in dieser
langen Nacht zwischen dem Tag der Beerdigung und dem Tag ihrer
Rückfahrt vielleicht jemanden zum Reden brauchte… er
tastete nach dem Lichtschalter und dem Telefonhörer. Aber
nein, viel eher war es wohl Pirelli mit seinem Bericht über
die Seuchentests, der bereits überfällig war. Oder mit
einem Bericht über Robin… oder, o Gott, Robin selbst,
die von einem selbstgerechten Pirelli seine Nummer bekommen
hatte…
    Es war Angel Whittaker.
    Keine Musik in Angels Wohnung. Das war das erste, was Joe
auffiel: Dieses merkwürdige Fehlen von Geräuschen, die
Stille, in der Angels hübsches, schwer gezeichnetes Gesicht
so vollständig gestrandet war wie ein Delphin
außerhalb des Wassers. Tiefe Falten zogen sich von Angels
Nasenwinkeln zu seinem grimmigen Mund. Er starrte vom Bildschirm
herab, ohne zu blinzeln. »Holet,
compadre.«
    Joe sagte leise: »Jetzt werden Sie mir endlich sagen,
was los ist.«
    »Ja.« Der junge Mann wandte den Blick vom
Bildschirm ab und sah ihn dann wieder an. Gehetzt, dachte
Joe.
    »Wer ist bei Ihnen, Angel?«
    »Niemand. Aber die Cops werden in etwa fünf Minuten
hier sein.«
    »Wieso? Woher wissen Sie das?«
    »Sie haben angerufen. Haben gesagt, ich soll bleiben, wo
ich bin.«
    »Sowas machen die nicht. Außer es
ist…«
    »Ja. Ein Sonderhaftgesetz.«
    Joes Mund war trocken. Die Sonderhaftgesetze waren
Überbleibsel aus der Zeit vor der neolibertären
Caswell-Administration, als die Regierung mehr und nicht weniger
Macht gehabt hatte. Eine Macht, die für spezielle Zwecke
geschaffen und geformt worden war und die niemand, nicht einmal
die Neolibertären, nun wieder abgeben wollte.
    »Welches Sonderhaftgesetz?«
    »R-52«, antwortete Angel, aber Joe wußte es
schon, bevor er es ausgesprochen hatte. In seinem Kopf summierte
sich so einiges, Worte, Ausflüchte und Hinweise, die er wohl
wahrgenommen, aber nicht zusammengesetzt hatte. Nicht hatte
zusammensetzen wollen.
    »Sie haben homosexuelle Handlungen begangen.«
    Wut blitzte in Angels dunklen Augen auf. »Herrgott, Sie
müßten sich mal hören! Bei Ihnen klingt das wie
schwerer Diebstahl oder Mord! Ich bin homosexuell. Es ist
das, was ich bin.«
    Joe schwieg. Die Sonderhaftgesetze stammten aus einer Zeit,
als Homosexualität gleichbedeutend mit dem Risiko war, einen
Mord zu begehen – aus Unwissenheit, wenn nicht gar aus
Trotz. In den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, auf
dem Höhepunkt der ersten Seuche, AIDS eins, hatte man im
Streben nach dem Schutz der Allgemeinheit keine feinen
Unterschiede gemacht.
    »Ich brauche Hilfe«, sagte Angel. Sein Gesicht
zeigte eine merkwürdige Mischung aus Trotz, Verdrossenheit
und inständigem Flehen.
    »Selbstverständlich«, sagte Joe. »Sagen
Sie den Cops, daß ich Ihr prozeßbevollmächtigter
Anwalt bin und daß sie mit mir reden müssen. Das wird
reichen, bis wir jemanden finden, der auf diesem Gebiet Erfahrung
hat. Außerdem: Sagen Sie kein Wort, Angel. Nicht ein Wort.
Ich rufe die Staatsanwältin an. Mal sehen, was sie mir
über die Anklagepunkte erzählen wird…«
    »Nein«, sagte Angel. Sein Mund arbeitete kurz, und
er senkte den Blick. Seine Wimpern warfen spitze Schatten auf
seine Wangen. »Sie sollen mich nicht
verteidigen.«
    »Was

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