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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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Pamphleten gestanden? Es schien, als hätte sie jemand anders
vor langer Zeit gelesen – »wie Meereslebewesen die
Ammoniakproduktion gesteigert haben, als der Regen zu sauer
wurde? Sowas in der Art? Durch AIDS und die Erinnerungsseuche
kommt es zu einer Verknappung der Erinnerungen aus einer Quelle,
und dann produziert das Übergedächtnis einfach mehr?
Aber wie?«
    »Es produziert keine Erinnerungen«, sagte Pirelli.
»Es produziert mehr Verbindungen zwischen den Erinnerungen.
Eine zunehmende Verflechtung. Mehr… Nervenbahnen, wenn man
so will. Damit die Komplexität die gleiche Wachstumskurve
beibehält.«
    Joe, der am Fenster stand, schnaubte. Caroline warf einen
Blick auf seinen starren Rücken. Sie hatte nicht
gewußt, daß ein Schnauben so viel Schmerz vermitteln
konnte.
    »Das verstehe ich nicht«, sagte Caroline einen
Augenblick bevor sie verstand. »Sie meinen die Karnies. Sie
meinen, es benutzt uns, unseren Zugriff auf frühere
Erinnerungen, um die Gedächtnis-Biosphäre so komplex zu
erhalten, daß… aber das ist doch
unmöglich!«
    »Wieso?« sagte Pirelli. Die Erörterung von
Wahrscheinlichkeiten schien ihn beruhigt zu haben. Er
lächelte sogar schwach. »Das Methan in den Fürzen
von Wiederkäuern trägt dazu bei, daß der
Sauerstoffanteil der Luft für das Leben geeignet bleibt.
Wieso sollte das Übergedächtnis nicht benutzen
können, was es benutzen muß, was es
benötigt…«
    Caroline hörte das Schwanken in ihrer Stimme.
»Joe?«
    »Laßt mich raus aus der Sache!«
    Sie drehte sich wieder zu Pirelli um. Sie hatte das
Gefühl, daß ihre Hand durch ihn, durch den Computer
und durch die Wand gehen würde, wenn sie sie ausstreckte.
»Aber warum Robbie? Was wollte >jetzt heraus Das haben Sie doch gesagt…«
    Pirellis runder Körper spannte sich abrupt wieder an.
»Das hat er gesagt.«
    »Aber warum gerade er? Warum mein Robbie? Und was ist
es?«
    Pirelli starrte sie an und blinzelte einmal.
    Caroline erinnerte sich plötzlich. »Patrick hat
gesagt…«
    »Wer ist Patrick?«
    »Pater Shahid.« Pirellis Augen leuchteten
interessiert auf. »Er hat gesagt… er hat
Karnie-Daten ge-dBased. Er sagte, es wäre… es
wäre Gott.«
    »Das hat er allein aus den Karnie-Daten entnommen?
Heiliger Jesus Christus des RAM-Chips. Aber nein, es ist nicht
Gott. Es ist… die Biosphäre des
Menschheitsgedächtnisses. Der nächste Schritt der
Evolution – aber nicht notwendigerweise der unseren. Eine
Gaia des Übergedächtnisses, die selbstregulative
Veränderungen gebiert.«
    Carolines nächste Worte kamen irgendwoher, ohne daß
sie sagen konnte, woher, weder in diesem Moment noch später.
Sie sagte langsam: »Oder selbst erst geboren
wird.«
    Joe drehte sich vom Fenster um. Bevor Caroline einen Blick auf
sein Gesicht werfen konnte, bewegte sich Robbie.
    Es begann langsam. Sie spürte es zuerst in den Knochen,
obwohl es dort nicht angefangen haben konnte: ein schwaches,
hilfloses Kribbeln, wie Strom im Säuglingsstadium. Es wurde
langsam stärker, breitete sich in ihrem gesamten Körper
und dann in der aufgeladenen Luft im Zimmer aus, ein wortloses,
unsichtbares Bad von Sinneseindrücken, die sich in der Luft
verdichteten wie ein greifbarer déjà-vu-Schauer.
»Jemand geht über dein Grab«, hatte ihre
Großmutter immer gesagt, wenn dieser Schauer kam. Oder
manchmal auch: »Ein Engel hat eben deinen Namen
gerufen.« Aber dies waren sämtliche Namen,
sämtliche Gräber. Ein Feld von ebenso hoher codierter
Komplexität wie jedes globale Datennetz, jedes
Produktionssystem von Mikroorganismen im Blutsalzozean, jede
codierte DNA, die das Potential des Lebens enthielt. Caroline
fühlte es in ihren Synapsen, in den Nervensträngen in
ihrem Rückgrat. Sie stand wie gelähmt in diesem Feld,
starrte Pirelli und Joe an und sah, daß sie das Datenfeld
ebenfalls spürten und daß sie es ebensowenig lesen
konnten. Es war ein elektronisches Netz von anderer Art –
informationsgesättigt, pulsierend vor Entschlossenheit
–, und sie standen mit Stiften und Tontafeln da.
    Trauer stieg in Caroline hoch. Sie dachte zuerst, es sei ihre
eigene – um Catherine, um Robbie –, erkannte jedoch
rasch, daß es nicht so war. Die Trauer hatte etwas
sonderbar Unpersönliches, wie ein sepiabraunes Foto von
einer Tragödie in einem anderen Jahrhundert. Dennoch war sie
real. Sie schwamm in ihrem Gehirn, eine wortlose Trauer über
einen unvorstellbaren Verlust, bis sie

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