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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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die
Sättigungsschwelle ihres Gehirns erreichte und
überfloß. So fühlte es sich für sie an: als
ob sie wirklich spüren könnte, wie Trauer oben aus
ihrem Kopf lief, real wie Wasser, und die vier menschlichen
Seelen in dem Zimmer umströmte. Dann sank das Gefühl so
rasch ab, wie es angestiegen war, es lief wieder durch ihren
Schädel ab, und alles, was blieb, war ein Prickeln in ihrem
Genick, das nicht mehr als ganz normale Angst hätte sein
können.
    Das ganze Feld war in Robbie hinein abgelaufen.
    Joes Gesicht war aschfahl. Er sah aus, als ob er gleich
umfallen würde. Ohne nachzudenken, ging Caroline zu ihm hin
und legte ihm eine Hand unter den Ellbogen. Sein Körper
zitterte.
    »Das war das Menschheitsgedächtnis«,
flüsterte Pirelli. »Es hat aufgegeben.«
    Joe erschauerte von neuem. Caroline rief: »Aufgegeben?
Was?«
    »Den Versuch, herauszukommen.«
    »Woraus?«
    »Aus der toten Vergangenheit. Aus der… der
passiven Regulierung, im Gegensatz zur aktiven. Aus der
Zwischenwelt.«
    »Nein«, sagte Caroline, »nein«, und war auf einmal wütend. Sie griff eifrig nach der Wut,
hielt sich mit beiden Händen an ihr fest und schrie Pirelli
voller Verachtung und Abscheu an. »Sie reden doch nur
dummes Zeug! Sie müßten sich mal hören –
>tote Vergangenheit<, >passive Regulierung<,
>Zwischenwelt< -Herrgott, was für ein Mischmasch!
Mystizismus und Technik und Religion und… Sie sind kein
Wissenschaftler, Sie sind ein Medizinmann! Und
Robbie…«
    Sie regte sich so schnell wieder ab, wie sie aufgefahren war.
Ihre Hände hoben sich langsam, die Handflächen nach
außen, flehentlich; Caroline starrte die rosige Haut an,
als ob die Hände jemand anderem gehören würden. Im
Bett stöhnte Robbie. Caroline ging zu ihm, und er drehte den
Kopf und blickte sie an, ohne sie zu erkennen.
    »Robbie…«
    »Armand«, flüsterte er. »Johnny
Lee.«
    »Das ist alles erledigt«, brachte sie heraus.
»Alles vorbei.«
    »Ich werde denen was geben, das sie, verdammt noch mal,
nicht vergessen werden«, sagte er ohne Bitterkeit, im
gleichen sanften, müden Ton.
    »Rob…«
    »Geh heute abend nicht weg, Johnny Lee – bleib
hier. Wir gehen den Elefanten angucken.« Caroline
mußte sich tief hinunterbeugen, um ihn überhaupt zu
hören.
    »Brekke, wenn Sie mich hören
können…«, sagte Pirelli.
    »Das Porzellan ist fertig, Meister.«
    Joe zuckte zusammen.
    Robbie schloß die Augen und schlug sie wieder auf. Die
leise, tonlose Stimme änderte sich nicht. »Ist mir ein
Vergnügen, Sir, ich bin stets bereit, wenn ich Ihnen zu
Diensten sein kann.«
    Caroline kniete am Bett nieder und nahm ihn in die Arme.
    »Holt die Ziegen jetzt von der Weide herein.«
    »Die Fliegentür muß mal geflickt
werden.«
    »Nikos, behalt vor allem die linke Flanke im
Auge!«
    »Jesus, Maria und Joseph«, sagte Pirelli
leise.
    »Geben Sie ihm ein Beruhigungsmittel«, befahl
Caroline. »Sorgen Sie dafür, daß er
aufhört! Sehen Sie nicht, daß er gefangen
ist?«
    »Aber nur in seinen eigenen Leben«, sagte Pirelli.
»Das sind alles seine.«
    »Armand, laß uns dieses Wochenende wegfahren, nur
wir beide.«
    »Das Stück Land an der Stadtmauer ist mein; ich
hab’s für drei Silberstücke erworben.«
    »Mutti, mir tut das Ohr weh.«
    Caroline stöhnte. Pirelli machte die Tür auf und gab
jemandem auf dem Flur ein Zeichen. Im nächsten Moment
erschien der gleiche Sanitäter mit einem
Betäubungsstreifen. Pirelli bedeutete ihm, noch zu
warten.
    »Um Himmels willen…«, bettelte
Caroline.
    »Moment. Nur eine Minute. Ich möchte sicher
sein…«
    »Sicher!« Sie hätte ihm die Augen auskratzen,
hätte den fetten Mann in Stücke reißen
können. Sie war drauf und dran, es zu tun, sie wollte
aufspringen – aber statt dessen hielt sie Robbie weiterhin
fest. Sein Körper lag reglos und dünn in ihren Armen,
und seine müde Stimme redete immer weiter, Leben auf Leben
in kunterbuntem Durcheinander, während sie ihre Arme um die
bevölkerte Leere legte, zu der Robbie geworden war, und
zusah, wie eine von Robbies Worten ausgelöste Erinnerung
nach der anderen auf Joes Gesicht aufschimmerte. Alle. Jede
einzelne.
    Schließlich hatte sogar Pirelli genug, und der
Sanitäter drückte den Betäubungsstreifen an
Robbies Hals. Seine blauen Augen schlossen sich, und die endlosen
Splitter toter Leben hörten auf hervorzuquellen. Caroline
kam taumelnd auf die Beine.
    »Er ist gefangen. Gefangen in… in einer

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