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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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scharf an. In der Ferne begann eine Sirene zu
heulen: wahrscheinlich der Gehirnwäsche-Spezialist. Und
vielleicht würde alles gut gehen. Vielleicht lag Pirelli mit
seinem globalen Denken – er war selbst eine weitere Gaia,
dachte sie – total daneben. Vielleicht würde das
Schloß vor Robbies Gedächtnis von allein aufspringen,
vielleicht würde er morgen oder nächste Woche oder in
einem Monat gesund und munter aufwachen, vielleicht würde
sich niemand in dieser Sache etwas einfallen lassen
müssen…
    Sie erinnerte sich plötzlich klar und deutlich an die
Nacht, in der Catherine zur Welt gekommen war. Charles war nicht
dagewesen; er war nach einem ihrer sinnlosen Zerwürfnisse
aus dem Haus gestürmt, sie wußte nicht, wohin. Das
Baby hätte erst in drei Wochen kommen sollen. Die Wehen
setzten mit unerwarteter Heftigkeit ein, und nicht in ihrem
geschwollenen Bauch, wo sie es erwartet hatte, sondern in ihrem
Kreuz, ein so starker, mahlender Schmerz, daß sie glaubte,
in der Taille entzweizubrechen. Von Panik erfüllt,
außerstande nachzudenken, hatte sie Colin angerufen. Er
erschien in einer Kniehose und einem Wams aus Samt und mit seinem
kompletten Falstaff-Make-up; er hatte ihre Nachricht zwischen dem
zweiten und dritten Akt hinter der Bühne bekommen und war
einfach aus dem Theater marschiert. »Was fällt dir ein
– das kannst du doch nicht machen!« rief sie;
empört, wütend, dankbar, von Schmerzen gepeinigt.
»Ich kann alles machen, wenn ich genug Phantasie habe, um
es mir einfallen zu lassen«, erwiderte er, »und du
kannst das auch, Callie.«
    »Blödsinn«, hatte sie gekeucht und sich
zusammengekrümmt. Fünfzehn fürchterliche Stunden
später war Catherine zur Welt gekommen: rot, runzlig,
blutig, schreiend, perfekt.
    Und bis zu diesem Augenblick hatte sich Caroline an nichts
davon erinnert.
    Die Sirene draußen wurde mit einem Doppler-Crescendo
lauter und verstummte dann abrupt. Stimmen ertönten unter
dem Fenster. Pirelli und der Sanitäter gingen auf den Flur,
um die Männer aus Washington zu empfangen. Über Robbies
schlafende Gestalt hinweg sahen Caroline und Joe sich an. Dann
war das Zimmer voller Menschen, Maschinen auf Metallwagen wurden
hereingerollt, die Worte >geheim< und >Virus< und
>der Vizepräsident< umschwirrten sie, bis jemand sie
fest am Ellbogen packte und aus dem Zimmer führte, weg von
Robbie, der friedlich schlafend mit seinem gerötetem Gesicht
auf dem Kissen dalag, wobei ihm die blonden Haare über die
Wangen herabfielen, wo ihm Stoppeln gesprossen waren, seit er
sich zum letztenmal rasiert hatte.

 
EPILOG
Juni 2023
     
    Der Juni des Jahres 2023 war unerwartet kalt und brachte damit
die Umweltschützer aus dem Konzept, die einen neuen
Treibhauseffekt vorhersagten. Caroline fuhr die Fensterscheibe
ihres Luftwagens hoch, der mitten in Manhattan in einem Stau
steckte. Zuviel Verkehr – sie hatte sich immer noch nicht
an die exponentielle Zunahme von Luftwagen während der
Monate gewöhnt, die sie nicht in New York verbracht hatte.
Manhattan hatte sich innerhalb eines Jahres verändert.
    Alles hatte sich verändert. Nichts hatte sich
verändert.
    Aber die Straße unten sah genauso aus wie immer
während der Theatersaison, zwanzig Minuten, bevor der
Vorhang aufging: verstopft, lärmerfüllt, voller
Hologramme in den schreiendsten Farben und voller Menschen, die
sich gegenseitig blockierten, um dreißig Sekunden
früher bei irgendeiner Off-Broadway-Produktion zu sein.
Nicht daß sie behaupten konnte, besser zu sein… Sie
zupfte die Diamantenkette an ihrem Hals zurecht und grinste, als
der Leibwächter, der ihr gegenübersaß, sich
vorbeugte, um einen genaueren Blick auf den Verschluß zu
werfen. Cassidy, erinnerte sie sich: Sein Name war Cassidy. Er
war gut. Das mußte er auch sein; es war der Gipfel der
Dummheit, dort, wohin sie unterwegs war, Diamanten zu tragen, und
Cassidy wußte es, und sie wußte es, und sie
würde sie trotzdem tragen. Ich würde
Straußenfedern und Käferschalen tragen, dachte sie,
wenn ich diese Premiere dadurch zu einem Galaereignis aufwerten
könnte.
    Bitte, laß sie zu einem Ereignis werden.
    Herrgott, war sie nervös.
    »Mögen Sie Theater, Mister Cassidy?«
    »Ganz und gar nicht.« Er musterte weiterhin den
Verschluß ihrer Kette.
    »Caroline – eine Fernsehsendung«, meldete
sich der Bildschirm, der in die Rücklehne von Jasons Sitz
eingebaut war. »Soll ich mitschneiden oder

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