Schädelrose
mit einem Kuß!«
Caroline saß lächelnd auf dem Boden am Fenster und
umschlang ihre Knie, atmete die Juninachtluft und lauschte auf
das Plätschern kleiner, unsichtbarer Wellen am Ufer des
riesigen Sees in der Dunkelheit jenseits des Fensters. Ihre
Operation war für Donnerstag geplant, in drei Tagen. Danach
vielleicht noch ein Tag oder so unter Betäubung. Dann
würde sie im Institut einen Monat lang lernen, ihre eigene
lange Vergangenheit zu erforschen. Sie würde andere
Erinnerungen neben denen an Colin, Jeremy und Charles haben,
neben denen an Catherine, eine kleine, geschwächte Gefangene
in einem Heim in Albany. Sie würde eine Fülle neuer
Erfahrungen haben, die sie gewinnen würde, ohne sie
tatsächlich zu machen, eine Schatztruhe neuer Ablenkungen,
eine Bibliothek neuer Lebensweisen, die in Wirklichkeit alte
Lebensweisen waren, ihre Lebensweisen. Andere Carolines.
Besser als die jetzige. Eine maßgeschneiderte innere
Datenbank von Optionen, Möglichkeiten und aufregenden neuen
Lösungen…
Sie wünschte, es wäre schon vorbei.
2.
JOE
Sein Fuß war zu schlimm für die Treppe. Joe
schleppte sich zu den Fahrstühlen, wartete und fuhr alleine
nach oben zu seinem Zimmer im vierten Stock. Der Bildschirm
blinkte ihm zu, daß mehrere Nachrichten vorlagen, aber
bevor er sie sich ansah, legte er sich quer aufs Bett,
schloß die Augen und begann tief durchzuatmen. Es fiel ihm
schwer, Konzentration zu finden; die Situation war zu unangenehm.
Sein Hinterhirn wußte, wie sehr es ihm zuwider war, im
Institut zu sein. Aber schließlich fand er ganz
plötzlich den Biofeedback-Rhythmus, als ob in seinem Kopf
auf einmal Musik eingeschaltet worden wäre. Lungen und Herz
reagierten, dann die Muskeln. Die Nerven nicht. Aber das hatte er
auch nicht erwartet. Beschädigte Nerven reagierten nicht auf
Biorhythmen.
Schwester Margaret hatte sofort gesehen, daß er MS
hatte.
Auf dem Weg zum Institut hatte er mit dem Taxi einen Umweg zum
Heim der Barmherzigen Schwestern für die Leidenden gemacht,
dem Schauplatz des jüngsten Haßanschlags. Das Haus war
uralt, aus den siebziger oder gar sechziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts. Zu alt, um komfortabel zu sein, zu neu, um
interessant zu sein. Perfekt geeignet als Herberge für
Menschen, die keiner wollte.
»Die Patienten waren nicht in diesen beiden
Zimmern«, hatte Schwester Margaret gesagt. Es war das erste
Mal, daß sie etwas zu ihm sagte. Jetzt hörte Joe,
warum: Ihre Stimme war voller Zorn, wie etwas Kaltes und
Schuppiges an einer straff gespannten Leine. »Dieses dritte
Zimmer war von einem einzelnen Seuchenopfer bewohnt. Er hat
geschlafen.«
Die Wände des dritten Zimmers waren mit rötlichem
Braun bespritzt. Joe schaute genauer hin, damit er Schwester
Margaret nicht ansehen mußte. In die Farbkleckse waren
harte weiße Stücke eingebettet.
»Die Polizei hat Ihnen doch die Genehmigung erteilt, mit
den Reparaturen zu beginnen, oder, Schwester? Die sind doch
fertig mit ihrer forensischen Arbeit?«
»Der Orden hat kein Geld für Reparaturen«,
sagte sie. Ihre Stimme änderte sich nicht. »Das wissen
Sie doch sicher schon, Mister McLaren. Ich dachte, deshalb sind
Sie hier.«
»Nein«, sagte Joe erschrocken. »Wie kommen
Sie denn darauf, Schwester?«
»Sind Sie kein Anwalt der Regierung? Von der Hilfsstelle
für Seuchenopfer?«
Er verspürte das wohlbekannte flaue Gefühl im Magen.
»Nein. Von der Regierung, ja. Aber nicht von der
HfS.«
Schwester Margaret starrte ihn unverwandt an. Ihre braunen
Augen waren ausdruckslos. Von ihrem Stirnband fiel eine Art
Beutel aus weißem Stoff herab, der ihr ganzes Haar bis auf
die in der Mitte gescheitelte Krone verbarg. Im Vergleich zu den
kurzen blauen Kopftüchern aus Joes Jugend sah das
bewußt häßlich aus. Zwei Seuchen – AIDS
vor der Jahrhundertwende, MFRD danach – hatten dazu
geführt, daß die katholische Kirche in Amerika wieder
einmal konservativ geworden war.
»Von welchem Teil der Regierung sind Sie dann,
Mister McLaren?«
»Von der Sonderkommission der Präsidentin zur
Seuchenkontrolle.« Er wußte, daß er den
kompletten, grandiosen Namen aus Ärger und Scham nannte: Sie
hatten nichts unter Kontrolle, aber alle Aufgaben kommissarisch
verteilt, das ja – Untersuchungen,
Bevölkerungsstatistiken, Pläne für alle
Eventualitäten, Kliniken, Zentren. Nach den schrecklichen
Fehlern im Kampf gegen AIDS vor dreißig Jahren hatte sich
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