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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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Linyis
beschränktes, aber erfülltes Leben zur Vollendung
gebracht worden, geziert von der Perfektion, die nur bei
Miniaturen möglich ist. Linyi…
    Jemand kam ins Zimmer, sagte etwas zu ihr und ging wieder
hinaus. Caroline lag reglos da, die Hand auf der unechten
Konfektschachtel, die Augen so weit geöffnet, daß ihr
Blick nach einer Weile verschwamm und selbst ihre eigenen
Füße, die angespannt unter dem anderen Ende der
leichten Decke lagen, wie etwas Fremdes und Sonderbares
ausseihen.

 
5.
JOE
     
    Zweieinhalb Wochen nach Joes Operation bestand der
Ärztestab auf sogenannten >Kleingruppen-Ausflügen
mit Führer für postoperative Patienten<. Dahinter
stand Joes Ansicht nach der Gedanke, daß neue Erinnerungen
außerhalb des Schutzes der behüteten und langweiligen
Institutsroutine absolut überwältigend sein und die
frisch Geeufelten so sehr lähmen könnten, daß sie
ohne die sofortige Intervention des Institutsstabs
aktionsunfähig wären. Das klang ausgesprochen
idiotisch, und der >Ausflug mit Führer< hörte
sich nach einer Exkursion für Sechstkläßler an.
Er erklärte sich erst bereit mitzugehen, als er herausfand,
daß Caroline Bohentin zu seiner Kleingruppe gehören
würde. Hinterher verfluchte er sich für seine
Dummheit.
    Die Gruppe stimmte dafür, einen Einkaufsbummel zu
machen.
    »Einkaufen? Was denn?« fragte Joe. »Was
gibt’s in Rochester zu kaufen, was wir nicht genauso leicht
dort kaufen können, wohin wir’s nicht erst
transportieren müssen?«
    Caroline warf ihm einen belustigten Blick zu. Sie trug ein
blaues Kleid, das in seinen Augen aussah, als ob es aus Papier
wäre, obwohl es das wahrscheinlich nicht war. Das Blau war
mit Tausenden winziger Löcher in raffinierten, strudelnden
Mustern perforiert, die er für geschickt angelegte
unterschwellige Botschaften hielt. Dazu trug sie ein schlichtes
weißes Stirnband aus Seide und Sandalen. Ihre Beine waren
nackt. Es war Juli, kein so stickig-feuchter Juli wie in
Washington, aber trotzdem heiß und irgendwie nicht weniger
unangenehm.
    »Es soll ein paar recht gute Läden
südöstlich der Stadt geben«, sagte die andere
Frau in der Gruppe, eine Britin mit einem verkniffenen
Lächeln und einer sehr langen Nase. Lady Alison.
»Amerikanische Glasbläserei, glaube ich.«
    »Das ist in Corning«, sagte Bill Prokop.
»Hundert Meilen südöstlich des ganzen verdammten
Landes.« Die Britin zuckte die Achseln. Prokop war
nervös und reizbar. Joe hatte den Journalisten seit dessen
Operation nicht gesehen, aber es kam ihm so vor, als ob Prokop
auf subtile Weise verändert wäre. Er schleppte
ständig ein kleines tragbares Terminal mit sich herum.
Caroline hatte ihm einmal beim Abendessen eine beiläufige
Frage über seine neuen Erinnerungen gestellt; Prokop war vom
Tisch aufgestanden und hinausgegangen.
    Caroline war die einzige, die Fragen stellte. Unter den frisch
Geeufelten war plötzlich ein merkwürdiger,
ungeschriebener Verhaltenskodex entstanden: Es wurde nie
über die neuen Erinnerungen gesprochen, außer wenn
Leute miteinander allein waren. Erinnerungen waren etwas so
Intimes wie Sex und etwas so überragend Wichtiges wie das
Atmen geworden. Manchmal hielt jemand mitten im Satz inne, sein
oder ihr Blick verlor sich auf einmal in der Ferne, der Mund
blieb offenstehen, und dann kam das überraschte halbe
Lächeln, das Joe bei sich spöttisch
>Erinnerungszugriffsmoment< zu nennen begonnen hatte. Die
anderen pflegten dann alle den Blick abzuwenden.
    Zuerst hatte er angenommen, dieser seltsame Kodex hätte
sich entwickelt, weil die Leute befürchteten, die Erinnerung
könnte sexuell sein und zu einem überwältigenden
Lustgefühl führen, das angeblich alle in Verlegenheit
bringen würde. Aber dann sah er, daß der Kodex
für jede Erinnerung galt, ob sie nun sexuell war oder nicht.
Selbst die beiläufigste Berührung der Vergangenheit war
von einer komplexen und zögernden Verlegenheit getönt:
War das ich, dieser Mensch, über den ich vorher wirklich gar
nichts wußte?
    Joe hatte den Eindruck, daß nur Caroline und er anders
reagierten. Sie sprach eifrig über ihre anderen Leben, mit
einer totalen Verachtung für die Abneigung der anderen, die
Joe gleichzeitig anziehend und abstoßend fand. Die
Offenheit und der Eifer waren anziehend; die Attitüde,
über dem Bedürfnis nach Zustimmung zu stehen, erinnerte
ihn an reiche Leute, die er an der juristischen Fakultät
gekannt

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