Schädelrose
zusammen.
Sie war zehn, rief sich Joe ins Gedächtnis. Aber sie sah
nicht danach aus. Blonder als Caroline, hatte sie eine andere
Kinnpartie: nicht so rund, stärker vorstehend. Joe versuchte
zu sehen, was sie mit dem Bauspielzeug machte, aber ihre Hand
verdeckte ein Stück davon, und er konnte es nicht
erkennen.
Jenseits des Teppichs änderte das Zimmer abrupt seinen
Charakter. Auf dem synthetischen, pflegeleichten Boden standen
ein praktischer Tisch und drei schlichte Stühle. Auf einem
davon saß eine dickliche Schwester mit freundlichem
Gesicht, die Zeitung las. Der Tisch war mit medizinischen
Aufzeichnungen, Stricksachen, Arzneifläschchen, einer
Spritze und einer Zeitung übersät. Die Spritze, die
Stricknadeln und die Medizin standen allesamt in bequemer
Reichweite des Kindes. Joe verstand; Catherine würde nie in
ihre Nähe kommen. Sie würde sie nicht einmal sehen.
»… nach ein oder zwei Stunden«, sagte die
Frau von der Verwaltung gerade. Ihre Stimme war leise von
professioneller Ruhe. »Sobald sie zu schreien
aufhörte, haben wir sie einfach wieder in ihre gewohnte
Umgebung gesteckt, und sie sehen ja, daß es ihr
gutgeht.«
»Was, zum Teufel, hatte sie draußen zu suchen, als
die Bombe fiel?« fragte der große Mann wütend.
»Ich dachte, Sie würden genau ihren
routinemäßigen Tagesablauf einhalten!«
»Ein Spaziergang im Freien gehört nun einmal dazu.
Das hat man Ihnen doch gesagt, Mister Long«, erklärte
die Frau nicht unfreundlich.
»Und wie, zum Teufel, ist es dem Bomber überhaupt
gelungen, damit davonzukommen? Was für
Sicherheitsmaßnahmen haben Sie hier eigentlich?«
»Die bestmöglichen«, sagte die Frau. Caroline
nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. Ihr Gesicht war
ausdruckslos.
»Und noch was«, sagte Charles Long, »was,
zum Teufel, war das für ein Mann, den ich da unten
ungehindert im Foyer rumspazieren sah? Der war kein Seuchenopfer.
Man hat mir gesagt, dieses Heim würde nur Seuchenopfer
aufnehmen – das gehörte zu Ihrer vielgepriesenen
Sachkenntnis, für die ich Sie bezahle. Und jetzt werde ich
von einem Verrückten angequatscht, der auf mich einplappert
und mich vollsabbert!«
»Sie sind schriftlich über die neuen Patienten und
das neue Personal in Cox Cottage unterrichtet worden, Mister
Long. Wir hatten das große Glück, ein
Forschungsstipendium zu bekommen…«
»Ich bin nicht unterrichtet worden!«
»Doch, bist du, Charles«, sagte Caroline in einem
harten Ton, den Joe noch nie bei gehört hatte. »Deine
Sekretärinnen haben dich wahrscheinlich nicht dazu bringen
können, den Brief zu lesen.«
»…ein Forschungsstipendium, um unseren
Seuchenopfern zu helfen«, fuhr die Frau entschlossen
fort.
»Es gibt eindeutige Hinweise auf Ähnlichkeiten
zwischen den Hirnwellenmustern von Patienten, die noch nicht im
tertiären Stadium sind, und diesen neuen Leuten mit dem
Korsakow-Syndrom. Sie…«
»Könnten ins Zimmer meiner Tochter spazieren und
ihre Stabilität noch mehr erschüttern!« rief
Long. Caroline schien nicht mehr zuzuhören. Sie warf einen
Blick auf die Uhr und beobachtete dann Catherine. Im gleichen
Moment schaute die Schwester auf ihre Uhr und legte die Zeitung
weg.
Catherine legte ihr Spielzeug hin, griff nach einer Puppe im
Bücherregal, zog den Arm zurück und rief:
»Mutti!«
»Was ist?« antwortete die Schwester.
»Komm bitte her!«
Caroline sagte: »Ich mache das.« Sie glitt vom
Fensterbrett, drückte ihre Zigarette aus und ging zum Tisch
hinüber; dann bog sie scharf ab, um den Teppich genau an der
Stelle zu betreten, wo die Schwester ihn betreten hätte. Die
Schwester beobachtete sie alle beide.
»Kann ich ein Keks?« fragte Catherine.
»Gibt doch gleich Essen.«
»Ach bitte!«
»Nicht quengeln, Schatz.«
Caroline trat wieder vom Teppich herunter, ging zum
Computerterminal hinüber und drückte müßig
auf irgendwelche Tasten. Das Spiel leuchtete auf und sang. Kurz
darauf schlenderte sie zum Bücherregal zurück, nahm
ihre Puppe herunter und begann ihr neue Sachen anzuziehen. Die
Schwester ging unauffällig zum Computer und brachte das
Spiel wieder in die vorige Position.
Joe wandte den Blick ab. Bei den Kindern war es immer am
schlimmsten. Im tertiären Stadium enthielten die
Routineabläufe eines Kindes oftmals Bruchstücke aus
verschiedenen Altersstufen, von verschiedenen Orten und
verschiedenen Stadien der Krankheit. Und Kinder behielten
häufig noch genug
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